Universität Bayreuth: „Lernen in virtuellen Räumen als pädagogische und soziale Herausforderung“
Der digitale Semesterstart war für alle eine neue Erfahrung. Am ersten Tag gab es 38.000 Zugriffe auf die Online-Angebote der Universität Bayreuth, mittlerweile hat es sich gut eingespielt. Aber die digitale Lehre wird nicht überall gleich gut ankommen – im wörtlichen Sinne, weil der Ausbau der Infrastruktur in Deutschland seit Jahren verschleppt wurde. Und gesellschaftlich, weil sich eine ohnehin vorhandene sozio-ökonomische Kluft vertiefen könnte. Das sagt Prof. Dr. Iris Clemens, die Inhaberin des Lehrstuhls für allgemeine Pädagogik der Universität Bayreuth, im Interview.
Dies ist das erste digitale Semester. Wie läuft es aus Ihrer Sicht als Pädagogik-Professorin?
Erstmal ist es ja für alle neu, das macht es natürlich auch spannend. Manche haben schon Sorge, dass man sich gar nicht mehr zum gemeinsamen lernen und diskutieren im analogen Raum treffen wird. Einige Lerninhalte lassen sich auch vergleichsweise gut in digitale Lernformen integrieren, da kann man dann mit spielerischen Elementen wie Quiz usw. arbeiten und die Vorteile digitaler Umgebungen wirklich nutzen. Andere Lerninhalte jedoch sperren sich solchen Vereindeutigungen. Das ist ein grundsätzliches Problem, das in den Bildungswissenschaften seit langem diskutiert wird. Wieder anders ist zum Beispiel der Fall der Kolleg*innen von den Sportwissenschaften, die es besonders trifft: Sportpraktische Übungen brauchen Realbedingungen. Da stößt das Digitale an seine Grenzen. Aber auch von Studierenden hört man, dass sie den Campus und das Campusleben durchaus vermissen.
Ist Deutschland technisch bereit für die digitale Lehre?
Es sollen natürlich alle Lernenden erreicht werden. Das ist aber nur teilweise möglich. Zum einen rächt es sich nun, dass der Ausbau der digitalen Infrastruktur bei uns lange Zeit vernachlässigt wurde. Deutschland ist zum Beispiel noch immer mit sehr vielen sogenannten „grauen Löchern“ durchzogen, Orte, an denen es gar keinen oder sehr schlechten Internetzugang gibt. Jeder kennt ja diese Ratings, in denen Deutschland weit abgeschlagen ist. Ausgerechnet das Bundesbildungsministerium verlautbarte dereinst, dass man nicht „an jeder Milchkanne“ Internet benötige. Wir alle kennen das Problem: Was nützen die sprichwörtlich gewordenen Tablets im Schulunterricht, wenn sie nicht einmal in der Hauptstadt flächendeckend und zuverlässig Internetempfang haben? Damit können Sie keine qualitativ hochwertigen digitalen Lernangebote aufbauen und am Laufen halten.
Ist das eine Eintagsfliege oder wirkt es nachhaltig?
Ich gehe davon aus, dass dies dann über die derzeitige Sondersituation hinaus langfristige Veränderungen in der professionellen Gestaltung von Lernprozessen haben wird. Es wird also auch nach der gegenwärtigen Ausnahmesituation wesentlich darauf ankommen, gründlich zu untersuchen, welche Kombinationen von digitalen und herkömmlichen Lernangeboten die größtmöglichen Potentiale für alle Lernenden bieten. Bis dahin ist Improvisationstalent aller gefragt – der Lehrenden wie der Lernenden. Allerdings darf das nicht dazu führen, dass der sogenannte digital divide – die digitale Kluft – unser ohnehin bestehendes soziales Bildungsproblem in Deutschland zusätzlich verschärft.
Was meinen Sie damit?
Deutschland steht ja schon seit langem in der Kritik, weil unser Bildungssystem bestimmte Gruppen stark benachteiligt. Das sind insbesondere Kinder aus sozio-ökonomisch schlechter gestellten oder auch zugewanderten Familien und Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Man spricht hier im Allgemeinen von einer großen sozialen Benachteiligung im und durch das Bildungssystem. Der Menschenrechtsinspektor der Vereinten Nationen beispielsweise, Vernor Muñoz, hat das deutsche Bildungssystem schon vor langem als sozial ungerecht gerügt. Die digitale Kluft droht nun, solche ungewollten Benachteiligungsstrukturen weiter zu verstärken und / oder zu festigen. Wieder sind dabei vielfältige Aspekte der sozio-ökonomischen Benachteiligung im Spiel. Zum einen geht es um die digitale Ausstattung im weiteren Sinne, weil jeder, der in digitalen Lernräumen erfolgreich sein will, auf eine bestimmte Ausstattung angewiesen ist. Diese reicht vom Endgerät über Datenvolumen bis zum Internetzugang. Gerade in ländlichen Umgebungen ist davon auszugehen, dass nicht alle zwangsläufig kontinuierlichen und zuverlässigen Internetzugang haben…
Und zum anderen?
Das Problem ist komplizierter, denn es greifen noch andere Formen der sozialen Benachteiligung. Nach der anfänglichen Euphorie beispielsweise hinsichtlich der neuen Möglichkeiten durch digitale Lernangebote ist man in der Bewertung digitaler Lernangebote– ganz grundsätzlich, nicht nur wenn Social Distancing gerade das Gebot der Stunde ist – vorsichtiger geworden. Zunächst entstand die Idee, Bildung ‚einfach‘ online zu stellen und damit Menschen weltweit die Möglichkeit zu geben, auf erstklassige Bildungsangebote zuzugreifen. Eliteinstitute wie Harvard, das hoch renommierte MIT oder Stanford stellen Angebote wie Vorlesungen kostenfrei ins Internet, und man träumte schon von einer globalen Demokratisierung von Bildung. Die Erwartungen waren sehr groß, Bildung flächendeckend umsonst und global anbieten zu können. Es ist viel Geld in diese Entwicklungen geflossen. Wir stellen jedoch weltweit fest, dass sozio-ökonomisch schwach gestellte Studierende bestimmte Online-Lernformen nicht so erfolgreich nutzen können wie ihre sozio-ökonomisch besser gestellten Kommilitoninnen und Kommilitonen, das Medium also Benachteiligungen weiterführt. Wenn man es plakativ sagen möchte: Galionsfiguren des Silicon Valley wie Bill Gates oder Marc Zuckerberg kommen aus gut situierten Familien und hatten es ja schon bis zum Studium geschafft – beide in Harvard. Gerade für bestimmte digitale Lernformen benötigen die Lernenden spezifische Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die Angehörige aus bildungsbürgerlichen Familien mit größerer Selbstverständlichkeit entwickeln und sozusagen schon mitbringen. Lernende aus sozio-ökonomisch schwachen Familien hingegen scheitern öfter.
Wer kann das Problem lösen?
Das Digitale wird dieses Problem nicht lösen, daran arbeitet sich die Politik ja schon seit vielen Jahren mit nur graduellem Erfolg ab. Man muss da vor allzu großen Erwartungen warnen. Im Moment muss man vor allem auch im Auge behalten, dass das Digitale das Problem nicht noch vertieft. Aber gerade digitale Lernangebote, die nicht mit Ist-Zeit-Präsenz arbeiten, können für einige Studierende wiederum auch Benachteiligungen abbauen, wenn feste Präsenzzeiten aufgrund von Kinderbetreuung oder Arbeitszeiten etc. nicht eingehalten werden können, sondern dann gelernt werden kann, wenn es die eigene Zeiteinteilung erlaubt. Hier kommen digitale Angebote dem Zeitmanagement dann entgegen.
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