Expertin der Universität Bayreuth fordert mehr weibliche Stimmen in der Politikberatung
Politik hört vor allem auf männliche Beratung – das hat Prof. Dr. Erdmute Alber, Inhaberin des Lehrstuhls Sozialanthropologie an der Universität Bayreuth festgestellt. Das habe auch damit zu tun, dass Männer jetzt produktiver werden, Frauen aber durch gewachsene Care-Aufgaben jetzt besonders stark ausgebremst werden. „Doch gerade in der Krise sind vielfältige Stimmen wichtig, dürfen Frauen nicht in der Unsichtbarkeit der Care-Arbeit verschwinden“, sagt Alber im Interview. Sie forscht vor allem zu Berührungspunkten von staatlicher Politik und Verwandtschaft und ist Vice-Dean des Exzellenzclusters „Africa Multiple“ an der Universität Bayreuth. Das vollständige Interview finden Sie hier: https://www.uni-bayreuth.de/de/universitaet/presse/pressemitteilungen/index.php
Wer sind die Verlierer in der Corona-Krise: Männer oder Frauen?
Glaubt man Presseberichten und ersten Studien, so vergrößert die Krise bestehende Ungleichheiten und trifft zudem besonders die Frauen. Einmal mehr zeigt sich, wie fragil die schwer errungenen Geschlechterparitäten sind. Frauen, für die Fragen nach der Vereinbarkeit von Lohn- und Sorgearbeit auch sonst besonders kritisch sind, sehen sich in der momentanen Krise mit multiplen Ansprüchen konfrontiert. Sie sollen berufstätig sein, im Homeoffice arbeiten, Kinder oder andere pflegebedürftige Personen betreuen und unterrichten – und all dies über Wochen ohne institutionelle Kinderbetreuung und ohne dass familiäre oder freundschaftliche Netzwerke genutzt werden dürften. Natürlich sind auch Väter davon betroffen, aber empirisch zeigt sich doch, dass ein Großteil dieser Sorge-Arbeit von Frauen verrichtet wird.
Gibt es dazu Untersuchungen?
Ich möchte speziell auf das Wissenschaftssystem zu sprechen kommen, in dem ja in den vergangenen Jahrzehnten viele Anstrengungen unternommen wurden, um Frauen zu fördern. Hier haben beispielsweise die Soziologinnen Misra & Lundquist schon 2012 beschrieben, wie weibliche Wissenschaftlerinnen nicht nur privat mehr Sorgearbeit verrichten als ihre männlichen Kollegen, sondern auch während ihrer Arbeit mehr Tätigkeiten verrichten, die in den Bereich der Fürsorge fallen – für Studierende und Kolleg*innen. All diese Mechanismen scheinen sich in der Krise zu verstärken. Ich glaube, das gilt auch für andere Branchen: viele Männer geben jetzt Gas, Frauen werden durch Care-Aufgaben ausgebremst. Besonders aufschlussreich fand ich in den vergangenen Wochen die Befunde nordamerikanische Wissenschaftlerinnen: Sie berichten, dass seit Beginn der Krise etwa doppelt so viele Manuskripte männlicher Wissenschaftler bei Zeitschriften eingereicht werden wie zu normalen Zeiten. Wissenschaftlerinnen hätten dagegen in den ersten Wochen des Lockdowns praktisch gar kein Manuskript mehr eingereicht. Solch eine dramatische Verschiebung sei noch nie beobachtet worden, berichtet eine Herausgeberin von www.thelily.com/.
Wissenschaftler waren aber noch nie so gefragt wie zurzeit…
Ja, genau: Wissenschaftler! In den Medien kommen täglich männliche Wissenschaftler zu Wort, gar nicht wenige davon wiederholt. Viele männliche Wissenschaftler scheint es derzeitig geradezu in die Öffentlichkeit zu drängen. Wissenschaftlerinnen scheinen dagegen auch medial in der Versenkung zu sein. Als Experten kommen – im Fernsehen, in der Presse, aber zunehmend auch in den Wissenschaftsjournalen – noch stärker als sonst die ohnehin überrepräsentierten Männer zu Wort. Dabei entsteht das Bild, dass in der Krise eben doch die Männer das Steuer in die Hand nehmen müssen. Oder eben: dass das Wissen der Frauen unwichtiger ist. An der dritten Stellungnahme der Leopoldina saßen neben 24 männlichen Wissenschaftlern nur zwei Wissenschaftlerinnen. Da durften also gleich dreimal Thomas mit dreimal Jürgen in den Austausch treten und die Bundesregierung beraten (die Namensdoppelungen verweisen ja auch auf eine spezifische Altersschichtung im Gremium). Annalena oder auch Ursula mussten dagegen draußen bleiben.
Gibt es einen Weg zurück zum zuvor Erreichten?
Wir können die Corona-Krise auch als Chance nehmen, uns der strukturellen Defizite in unserer Gesellschaft bewusst zu werden. Viele haben dieses Argument in Bezug auf das Gesundheitssystem oder die Unterbezahlung der Pflegeberufe und den damit verbundenen spürbaren Mangel an Pflegekräften in Deutschland geäußert. Es lässt sich auch auf die Geschlechterbeziehungen anwenden. In der Krise erleben wir, dass wir weniger weit waren als es uns die Gleichstellungspolitik weismachen wollte. Die zum Handeln verpflichtete Politik muss zunehmend kritische und oftmals auch widersprüchliche Erkenntnisse von Wissenschaftler*innen ernst nehmen, würdigen und auf dieser Basis dann klare Handlungsanweisungen ableiten. Es stünde ihr gut an, stärker auch auf anthropologisches Wissen zurückzugreifen, gerade jetzt auch zum Bereich Verwandtschaft und Care. Ein Denken in simplen Handlungsketten von (einfacher) Ursache und (einfacher) Wirkung und das Festhalten an Kategorien, die die Vielfalt und das Innovationspotential menschlicher Sozialformen ignorieren, führt uns nicht mehr weiter. Insofern birgt die Krise die Chance, politisches Handeln neu auszurichten, der Komplexität sozialer Prozesse und der Vielfalt von Wissen stärker Rechnung zu tragen.
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