Leserbrief: „Verzerrte Wirklichkeit“
Sehr geehrte Damen und Herren!
In den Medien wiedergegebene, in der Regel wohl von den Pressestellen der Polizei verfaßte Unfallberichte hatten mir in der Vergangenheit oft das zweifelhafte Vergnügen bereitet, sie detailliert hinterfragen zu müssen. Häufigste Mißgriffe der Autoren waren:
- Fehlverhalten der Unfallverursacher wurde nicht benannt, vielmehr das Geschehen als quasi schicksalhaft dargestellt („von der tiefstehenden Sonne geblendet, übersah …“ – mit tiefstehender Sonne ist, abhängig von Tages- und Jahreszeit, zu rechnen, die Fahrgeschwindigkeit an die Sichtverhältnisse anzupassen).
- Den Opfern wird zumindest eine Teilschuld, wenn nicht die gesamte Verantwortung zugeschoben („der Radfahrer hatte keinen Helm auf“ – der Helm hätte den Unfall nicht verhindert, und seine Schutzwirkung hinsichtlich der Verletzungsfolgen wird maßlos überschätzt; „Radler kollidierte mit Pkw“ – tatsächlich hatte der abbiegende Kraftfahrer nicht auf Radweg und vorfahrtberechtigten Radfahrer geachtet).
- Mangel- und schadhafte Fahr- und Gehwege, gefährdende Verkehrslenkung sowie rücksichtsloses Kraftfahrerverhalten, welches auch ohne direkte Berührung zum Sturz nicht motorisierter Verkehrsteilnehmer führen kann, werden als mögliche Unfallursache gar nicht erst in Erwägung gezogen („stürzte auf Grund eines Fahr- / Bremsfehlers“ bzw. „… aus unbekannten Gründen“ – vielleicht, weil er / sie von einem Kraftfahrer abgedrängt / ausgebremst wurde oder ihm / ihr ein schwer erkennbares Schlagloch zum Verhängnis geworden war?).
Offenbar handelt es sich nicht um eine lokale Besonderheit der Bamberger Region. Die bekannte Fachpublikation „mobilogisch!“ (www.mobilogisch.de/aktuell) widmet sich in ihrer aktuellen Ausgabe dieser Problematik: „Polizisten wie Journalisten begehen in ihren Unfallberichten teils schwere Verstöße gegen die Gebote der Neutralität“, heißt es. Die „Ursachen liegen auf der Hand“:
- „schlichte Gewohnheit … fließen … etablierte Floskeln in den Bericht“
- „die Windschutzscheiben-Perspektive … vor allem auf das formale Einhalten von Regeln und auf die Optimierung des Autoverkehrs geschult … erleben … die Straßen viel häufiger im Auto als zu Fuß oder per Rad … Sichtweise von Autofahrern … vertrauter als die von Fußgängern und Radfahrern; entsprechend bewerten sie oft unbewusst Unfälle“
- „gerade bei Unfällen zwischen Autofahrern hier, Fußgängern oder Radfahrern dort wird das durch eine makabre Schieflage bei den Aussagen verstärkt: Die Autofahrer können meist noch reden, die anderen oft nicht.“
- „Journalisten haben ähnliche Sichtweisen … Polizei erscheint als neutrale Quelle … selbst … oft viel mit dem Auto unterwegs“
Mit einem drastischen Beispiel verdeutlicht der Autor: „Ein Lastwagenfahrer war nach rechts abgebogen und hatte eine Frau auf dem Pedelec getötet. Die Ursache war klar, aber das Blatt fragte nicht nach Zeitdruck oder Überforderung von Lkw-Fahrern, sondern titelte: ‚Wie gefährlich sind Fahrräder mit Elektroantrieb?'“
„Wie Abhilfe schaffen?“ fragt der Verfasser des Beitrags. So empfiehlt er beispielsweise Journalisten, „nach schwerem Unfall den Ort aufzusuchen und nach Mängeln der Infrastruktur und der örtlichen Regeln zu überprüfen … Beklagt dann das Lokalblatt den fehlenden Übergang, die riskante Ampelschaltung oder die chronische Raserei“, könne die Berichterstattung konstruktiv Verbesserungen bewirken.
Leider sind meine bisherigen Versuche, die Aufmerksamkeit entsprechend zu wecken, bislang wirkungslos versandet. Vielleicht kann der diesem Schreiben zu Grunde liegende Artikel eines Fachblatts das Umdenken anstoßen.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Bönig
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