Von Osterkitsch und Hasenkunst: Bamberger Forscher vergleichen ästhetisches Erleben
Es ist Ostern und die Hasen sind wieder los – in Schaufenstern und Vorgärten, auf Ostereiern oder Pralinenschachteln. Darunter zwei besonders beliebte Motive: Ein goldenes Exemplar aus der Schweiz und sein fränkischer Kollege, der Dürer-Hase. Dass es sich bei Albrecht Dürers Naturstudie eines jungen Feldhasen von 1502 um Kunst handelt, ist heute unbestritten. Aber gilt das auch für die serienmäßig hergestellten Doppelgänger aus Plastik wie sie unter anderen der Bildhauer Ottmar Hörl anfertigte? Zumindest werfen diese eine Reihe von Fragen auf, zum Beispiel: Wo hört Kunst auf und wo fängt Kitsch an? Wieso ist unser Verhältnis zu Kitsch so widersprüchlich? In einer aktuellen Veröffentlichung geben die Psychologen und Wahrnehmungsforscher Claus-Christian Carbon, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Psychologie und Methodenlehre an der Universität Bamberg, und sein Doktorand Stefan Ortlieb erste Antworten auf diese Fragen.
Die beiden Wissenschaftler haben empirische Studien unter anderem zur Wahrnehmung von Kunst gesichtet und mit dem Zürcher Modell der sozialen Motivation des Psychologen Norbert Bischof verknüpft. Das Ergebnis: Ein Erklärungsmodell, welches das Wechselspiel zwischen ästhetischem Erleben, der aktuellen Lebenssituation und dem jeweiligen Gefühlszustand beschreibt. Die Wahrnehmungspsychologen sprechen deshalb von einem dynamischen Verhältnis von Kunst und Kitsch: Kunst kann also zu Kitsch werden und umgekehrt, zwischen beiden besteht aber dennoch ein formaler Gegensatz.
Warum ist das so? „Je nach emotionaler Verfassung sehnen wir uns nach Sicherheit und Gewohntem – ein Wunsch, den Kitsch befriedigt. Oder sind offen für Innovatives und Unbekanntes, also für Kunst“, sagt Claus-Christian Carbon. Tritt der Dürer-Hase an Ostern in seiner Kitschfunktion auf, so stellt er sich in den Dienst einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Vertrautheit, während er in seiner Kunstfunktion an Bedürfnisse nach Autonomie und neuen Erfahrungen appelliert. „Kitsch ruft spontane Gefühle hervor, ist eng mit angenehmen oder tröstlichen Vorstellungen von einer heilen Welt verbunden und greift deshalb auf Klischees zurück“, erklärt Stefan Ortlieb. Das könnten gefühlsbetonte Themen wie die romantische Liebe sein, Sinnsprüche oder Bilder mit einem hohen Wiedererkennungswert, zum Beispiel Emojis oder Stockfotos.
Im Unterschied zu Kitsch hatte Kunst stets den Anspruch originell und neuartig, sogar provokant und unbequem zu sein: „Dürers Zeitgenossen hielten beispielsweise einen Feldhasen nicht für darstellungswürdig. Allein durch die Wahl seiner Motive ist es Dürer gelungen, diese Einstellung zu verändern“, so Stefan Ortlieb. „Heute ist sein Feldhase ein Sinnbild für Kunst schlechthin.“
Treffen die Annahmen der Psychologen zu, würde Kitsch eine erhebliche Bedeutung bei der Regulierung von Emotionen spielen: „Es liegen empirische Belege dafür vor, dass Vertrautheit und Gefallen situationsabhängigen Einflüssen und Bedürfnissen unterliegen“, sagt Claus-Christian Carbon. Innovatives Design beispielsweise werde positiver bewertet, wenn sich die Befragten sicher fühlen; umgekehrt lehnten Probanden abstrakte Kunstwerke eher ab, wenn sie sich zuvor gedanklich mit ihrer Sterblichkeit beschäftigt haben.
Einen ausführlichen Artikel mit weiteren Informationen finden Sie unter www.uni-bamberg.de/allgpsych/news, die Originalveröffentlichung unter https://doi.org/10.3389/fpsyg.2018.02437 [Titel anhand dieser DOI in Citavi-Projekt übernehmen] : Ortlieb, S. A., & Carbon, C. C. (2019). A functional model of kitsch and art: linking aesthetic appreciation to the dynamics of social motivation. Frontiers in Psychology, 9 (2437).
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