Neues Buch: „Versorgung älterer Menschen durch Stärkung informeller Pflege“ im Raum Oberfranken

Symbolbild Bildung

Oberfränkische Studie: „Was pflegende Angehörige wirklich brauchen“

Dr. Matthias Drossel

Dr. Matthias Drossel

In einer Studie für den Raum Oberfranken, die nun auch als Buch erschienen ist, setzte sich Dr. Matthias Drossel mit Personen auseinander, die andere Personen unentgeltlich pflegen. Das Wort Demografie und deren Veränderungen ist in aller Munde. Unsere Gesellschaft entjüngt sich. Mehr ältere Personen bedeutet häufig später auch mehr Pflegebedürftigkeit. Dieser Trend ist in den nächsten Jahren eine sehr große Herausforderung für das Pflege- und Gesundheitssystem. Pflege und Unterstützung zu Hause, die s.g. informelle Pflege, durch z. B. Nachbarn und Angehörige nimmt daher einen großen Stellenwert ein. Auf der anderen Seite gibt es einen erheblichen Fachkräftemangel bei professionell Pflegenden. Um die Pflege auch künftig gewährleisten zu können ist es also notwendig die informelle Pflege weiter zu fördern und zu stärken. Und das nicht nur mit Lippenbekenntnissen. Die Studie trägt deshalb dazu bei, dass Ansätze gefunden werden, welche Hilfen und Unterstützungen den Personen wirklich helfen. Interessant ist, dass es bereits eine Vielzahl von verschiedensten Möglichkeiten gibt. Die pflegenden Angehörigen kennen diese jedoch häufig nicht oder nehmen sie nicht in Anspruch. Sie passen häufig nicht für die Zielgruppe. Ein paar ausgewählte Beispiele der Ergebnisse werden nachfolgend dargestellt.

Verbindliche Beratungs-/Informations- und Anleitungsgespräche

Beratung, Information und Anleitung muss auf verschiedene Ebenen stattfinden. Präventive Beratungen, also zum Beispiel Beratung von Angehörigen und Personen in deren Umfeld Personen leben, die ein erhöhtes Risiko haben pflegebedürftig zu werden, könnten in Betrieben, VHS Veranstaltungen, bei Bürgerversammlungen, stattfinden. Für bereits und neu informell Pflegende müssen Informationen, Beratungen und Anleitungen flächendeckend, am Besten zu Hause, erfolgen. Idealerweise sogar verpflichtend, aufeinander aufbauend und regelmäßig. Schulungsinhalte könnten dann zu Leistungen, Durchführung von Pflegetätigkeiten, Beratung zu Materialien, uvm., sein. Die Qualität, der Aufbau und Inhalt des Angebots sind dabei ebenso entscheidend wie die Qualifikation der durchführenden Personen, ein interdisziplinärer Ansatz, Neutralität der Beratung und die Bekanntheit des Angebots. Dies kann durch unabhängige Berater der Gemeinden, zum Beispiel Gemeindeschwestern, Pflegedienste und Wohlfahrtsverbände organisiert werden. Ergänzend zu den Angeboten, die heute existieren. Zentrale Anlaufstellen vor Ort, wie zum Beispielen in Quartierskonzepten, sind wichtige Ansatzpunkte, die auch durch Gemeindepfleger unterstützt werden können. Auch virtuelle, digitale Wege gewinnen an Bedeutung. Neben der Schnittstellenarbeit zwischen und innerhalb der verschiedenen Akteure und Institutionen im Gesundheitswesen, müssen die Informationen einfach und leicht verständlich organisiert werden. Hierzu sollten für die Informationssysteme und Broschüren zum Beispiel Gerontologen, also Experten für alte Menschen, einbezogen werden.

Transparenz und Fairness bei Pflegebedürftigkeitseinstufung

Aus Sicht der informell Pflegenden sollten die Pflegeversicherer ihrer eigentlichen Aufgabe besser gerecht werden. Viel zu häufig kommt es nach der Meinung pflegender Angehöriger dazu, dass ein niedrigerer Pflegegrad oder gar kein Pflegegrad bewilligt wird. Nach Androhung oder Nutzung juristischer Maßnahmen und Widerspruch einlegen klappt es dann jedoch, so die pflegenden Angehörigen. Das Verfahren wird insgesamt als sehr negativ beschrieben. Die Monopolstellung der Kassen und des MDK könnte durch z.B. zentral-staatliche Pflegeeinstufung aufgehoben werden. Ob dies wirklich zu dem gewünschten Effekt führe, stellt Dr. Matthias Drossel jedoch in Frage. Er verweist auf eine effektive Kundenorientierung, die dennoch Betrugsversuche erkennen lässt. Hier sind seiner Meinung auch immer wieder Betrugsfälle durch Pflegebedürftige und deren Angehörige vorzufinden. Man müsse hier bessere und fairere Wege zur Zuteilung von Geldern und Pflegeleistungen finden.

Aus- und Aufbau weitere Leistungen der ambulanten Versorgung

Entlastungsleistungen und Verhinderungspflege sollten ausgebaut und flexibilisiert werden. Die Tagespflegeangebote werden von informell Pflegenden in der Regel als sehr positiv bewertet. Sie tragen zu einer deutlichen Entspannung bei. Jedoch werden diese als zu starr bewertet. Diese können also noch verbessert werden, zum Beispiel, dass diese flexibler in Anspruch genommen werden können. Hier wären flexible Buchungszeiten eine Lösung. Weiter auch geplante Entspannungsphasen für informell Pflegende sollten ermöglicht werden. Ebenso die Leistungen und das Portfolio der Pflegedienste durch flexiblere Besuchszeiten und Bereitschaftsdienste ergänzt werden. Ein deutsches Modell für 24h-Pflege, z.B. eine Pflegeperson betreut mehrere Haushalte, Einsatz von Pflegerobotern, ist eine weitere Idee. Fachärzte und Hausärzte sollten eine weitsichtige und den Bedürfnissen von Pflegebedürftigen angepasste Versorgung anbieten und aufrechterhalten. Dazu gehören u.a. Hausbesuche auch durch Fachärzte. Diese müssen von den Kassen attraktiver vergütet werden. Derzeit sind Hausbesuche von Fachärzten sehr selten und für alle Ärzte nicht attraktiv.

Mobilität erhalten

Die Ergebnisse aus der Studie zeigen, dass allgemein eine Sensibilisierung auf Pflegebedürftigkeit und informelle Pflege in vielen Teilbereichen geschaffen werden muss. Dazu gehören z.B. Schulungen für Busfahrer zu Mobilitätseinschränkungen sowie Anpassungen im öffentlichen Nahverkehr an Pflegebedürftige. Aber auch das direkte Umfeld ist gefragt. Viele kleinen Dörfer sind schlecht an die öffentlichen Verkehrsmittel angebunden. Nachbarschaftshilfen und ehrenamtliche Helfer sind dabei für viele Konzepte unabdingbar. Hier könnten mehr Bürgerrufautos, Mitfahrgelegenheiten u. ä. organisiert und gefördert werden.

Entbürokratisierung und Einbindung

Die Entbürokratisierung muss nicht nur bundesweit verbessert werden. Auch regional können Unterstützungen bei der Beschaffung von Hilfsmitteln zur Mobilitätserhaltung und schnelle Entscheidungen vor Ort bei den Kostenträgern helfen. Die Kommunen und Länder müssen Investitionen für Infrastruktur für pflegende Angehörige und systematische Konzeptarbeit tätigen. Berater in den Gemeinden vor Ort, die auch pflegende Angehörige zu Hause besuchen und beraten, können ein wichtiges Puzzleteil sein. Die Förderung von Seniorenarbeit muss in den Kommunen, z.B. durch Aufbau von Netzwerken und Integration in Gremienarbeit, priorisiert werden. Nicht zuletzt die Würdigung der gesellschaftlich so wichtigen Aufgabe muss verbessert werden. So könnte man zum Beispiel ein öffentliches Lob für informell Pflegende aussprechen oder auch vereinzelte Vergünstigungen ermöglichen.

Investitionen

Subventionen, wie kostenlose Entsorgung von Inkontinenzmaterial sind sinnvoll. Gesetzesänderungen, die z.B. die soziale Absicherung informell Pflegender unterstützt (z.B. Lohnfortzahlung bei informeller Pflege, Arbeitnehmerschutz), sind notwendig. Hier muss Bund, Land und Bezirke ihre Anstrengungen weiterverfolgen und mehr auf die Zielgruppe und deren Bedürfnisse achten.

Bei der Gesamtschau der Ergebnisse wird deutlich, dass v.a. auch die Strukturen des Ehrenamts – füreinander da zu sein und sich zu für die Gesellschaft zu engagieren – eine wichtige Säule der Unterstützung und Hilfe für informell Pflegende darstellt.

Es braucht ein Gesamtkonzept

Die Ansätze, die herausgearbeitet wurden können nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Dr. Drossel formulierte diese in sozialpolitischen Handlungsempfehlungen.

Mehr Ambulantisierung bedeutet mehr Schnittstellen

Die Ambulantisierung von Pflege und Gesundheitsleistungen ist unaufhaltbar und klarer politischer Wille. Die zunehmende Umstellung auf ambulante Leistungen begann bereits vor vielen Jahren. Liegezeiten in Krankenhäusern verringern, aber auch so lange als möglich zu Hause leben, sind dabei sehr wichtige Ansätze, die i. d. R. auch positive Auswirkungen auf den Pflegebedürftigen haben. Bis heute bestehen aber keine guten Konzepte um die unterschiedlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Die verschiedenen Schnittstellen zwischen Ärzten, Pflege, Krankenhaus, Therapeuten sind nicht nahtlos und selten gut abgestimmt. Die Kooperation und Zusammenarbeit muss anders verlaufen oder durch Dritte begleitet werden. Hier ist gemeint, dass beispielsweise Sozialarbeiter den Patienten und dessen Wechsel zu den unterschiedlichen Gesundheits- und Pflegebegleitern mit betreut und begleitet. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die unterschiedlichen Berufsgruppen des Gesundheitswesens enger miteinander zusammenarbeiten. Hier reicht häufig schon ein gut formulierter Brief oder ein kurzes Telefonat. „Natürlich bedarf es hierfür aber auch noch speziellerer Ausbildungen/Studienmöglichen“, so Dr. Drossel.

Aufbau einer Engagement-Region

Inspiriert vom Emsland beschreibt Dr. Drossel in seiner Studie eine Region, in der Menschen füreinander da sind und ehrenamtliches Engagement sehr ausgeprägt ist. Natürlich gibt es ein gutes Netzwerk ehrenamtlicher Arbeit bereits deutschlandweit, auch hier in Oberfranken. Jedoch meint dieses Konzept weitaus mehr: Aufbau, Investition, Begleitung sowohl auf Landesebene, Bezirksebene, Landkreisebene, als auch in den einzelnen Städten, Gemeinden und Dörfern. Ein Konzept mit diesem Ausmaß fördert das solidarische Interesse und Miteinander. Dies konnte in einer umfassenden Studie vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung von Frau Damm und Kollegen, schon belegt werden.

Traum einer Engagementregion Oberfranken

Dr. Matthias Drossel hofft mit seiner Studie einen Beitrag für seine Heimat und vielleicht auch darüber hinaus zu leisten. „Es wäre ein Traum, wenn wir in Oberfranken die Situation Pflegebedürftiger und deren Angehöriger durch ein Gesamtkonzept fördern können.“ Bei seiner Studie wurde er bereits von der Sozialstiftung Bamberg unterstützt. Durch die Verknüpfung eines Ambulantisierungsangebotes, das zwischen den Schnittstellen Informationsverlusten vorbeugt, aber vor allem auch die Versorgungskette nicht unterbricht, wird bereits viel gewonnen. Beispielsweise versuchen die Sozialstiftung Bamberg und Senivita schon Konzepte zu erarbeiten. „Hier muss der Konkurrenzgedanke noch weiter hintenangestellt werden. Gemeinsame Konzepte, die dann durchgeführt und umfassend wissenschaftlich ausgewertet und bewertet werden, sind der zielführende Weg“, so Dr. Drossel. Neben der Erarbeitung von Ambulantisierungskonzepten, also Vorgehensweisen zur bestmöglichen Versorgung von Pflegebedürftigen, ist es auch wichtig, wieder gesellschaftliche Wege für mehr gegenseitiges Interesse aneinander und zur Heimat zu finden. Eine Schaffung eines WIR-Gefühls und Engagement als Spaßfaktor führt zu einer echten Identifikation aller Altersgruppen mit der Heimat. Dieses Engagement kann sich dann auch als Tradition fest in der Gesellschaft verankern. Und noch viel mehr: Engagement als Mitgestaltungsmöglichkeit. Dazu Dr. Drossel: „Frau Damm vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung zeigt mit ihrer Studie im Emsland, dass der Wegzug durch die Etablierung einer Engagement-Region verringert oder gar verhindert werden kann. Junge Menschen wohnen wieder bewusst und gerne in der alten Heimat, engagieren sich in Vereinen und interessieren sich für die Mitmenschen. Das ist weitaus mehr als „nur Ehrenamt““.

Buchcover

Buchcover

Weitere Ergebnisse finden Sie im Buch, das im Jacobs Verlag erschienen ist:
Versorgung älterer Menschen durch die Stärkung informeller Pflege
Am Beispiel der Region Oberfranken
Lage 2018, 200 Seiten, ISBN 978-3-89918-263-7, 21 Euro

Zum Autor der Studie:
 Dr. phil. Matthias Drossel arbeitet als Gesamtschulleitung an den Bamberger Akademien für Gesundheits- und Pflegeberufe. Ab Oktober ist er zudem Professor an der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera im Bereich der Medizinpädagogik.

E-Mail: 
matthias.drossel@bamberger-akademien.de