Autorengespräch mit der in Forchheim aufgewachsenen Natascha Wodin war ein Höhepunkt des Erlanger Poetenfestes
Ein Theater des Wortes vor vollem Haus
Literatur war und ist überlebenswichtig für jede Zeitepoche und Gesellschaftsform. Sie behauptet erst recht ihren Stellenwert im Zeitalter der Sozialen Medien, wo die geschriebene und gelesene Nachricht zu einem schnell verfügbaren Massenartikel geworden ist. Lesen und Zuhören also hat nichts von seiner Faszination verloren. Diese tröstliche Erkenntnis vermittelt das Erlanger Poetenfest, das sich eines großen Zuspruchs erfreuen kann. Wenn man Literatur als Sprachkunstwerk versteht, dann erlebte das Wochenende in Erlangen einen Höhepunkt mit dem Autorenportrait der in Forchheim aufgewachsenen und in Berlin lebenden Natascha Wodin. Das Markgrafentheater war bis auf den letzten Platz besetzt.
Moderator Dirk Kruse, Kultur-Journalist und Krimiautor, stellte Natascha Wodin (72) als Schriftstellerin von europäischem Rang vor. Sie veröffentlicht seit 1983 und die stark autobiografisch geprägten Werke wurden mit vielen Preisen bedacht, zuletzt ihr Buch „Sie kam aus Mariupol“ mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2017.
Kruse hatte nicht zu hoch gegriffen. Das spannende, viel von Natascha Wodin preisgebende Gespräch und ihre Lesung aus verschiedenen Werken verfolgten die Zuhörer mehr als zwei Stunden sehr konzentriert, oft mit angehaltenem Atem. Zuhören in seiner höchsten Form! Die Tochter russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter, die 1943 nach Deutschland verschleppt wurden, und die mit Eltern und kleinerer Schwester ein entwurzeltes Dasein unter ärmlichen Verhältnissen in Franken fristen musste, von ihren Mitschülern gemobbt und ausgegrenzt wurde, die mit zehn Jahren ihre Mutter verlor, als diese sich in der Regnitz ertränkte, und die danach fünf Jahre in einem Bamberger Schwesterninternat ohne Liebe verbrachte, vermeidet in ihren Erinnerungen und Rückblicken jede Form von Lamoryanz und Abrechnung. Aber es sind Ausrufezeichen des Erinnerns. Dirk Kruse bezeichnete den Roman „Sie kam aus Mariupol“ über die Geschichte ihrer Familie, die sowohl den Terror Stalins als auch den Hitlers erdulden musste, als „Dokumentation, Memoir, Geschichtsbuch, Spurensuche und ein Denkmal für die Millionen Zwangsarbeiter, die während des Krieges nach Nazi-Deutschland verschleppt wurden“. Das treffendste Adjektiv in Bezug auf ihr Werk sei für ihn „schonungslos“. Sie schone weder sich noch den Leser. Aber indem sie Teile ihres Lebens zu Literatur verdichtet, „erzählt sie uns von dem, was uns alle betrifft“.
Druckfrisch zum Poetenfest ist der neue Roman „Irgendwo in diesem Dunkel“ (Rohwolt, Reinbeck 2018) erschienen. Er knüpft dort an, wo „Sie kam aus Mariupol“ endete. Die Ich-Erzählerin beschreibt in Rückblenden ihre Zeit im katholischen Kinderheim in Bamberg, die Rückkehr zum brutalen Vater nach Forchheim, ihre Flucht und Obdachlosigkeit und ihr Ankommen im Leben. Ein unter die Haut gehender, zu großen Teilen in Franken spielender Roman, resümierte Dirk Kruse.
Auf seine Frage, ob sie weiterhin Bücher schreiben wird, die aus dem Fundus ihres ereignisreichen Lebens gespeist sind, gestand Natascha Wodin, dass sie eigentlich nicht anders könne. Schuld sei der „Leidensdruck“, wie bei den meisten Autoren, „dieser „sch… Leidensdruck“. Und sie lachte dabei. Langer, langer Beifall und eine lange Schlange am Bücherstand, wo die erklärte Nachtarbeiterin fleißig Widmungen in die ihr vorgelegten Bücher eintrug.
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