„Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse“, Kapitel 7

"Sonntagsschüsse" Buchcover

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ASV Neundorf – TSV Weiherfelden (Vorbereitungsspiel)

Am nächsten Morgen um Punkt 7 Uhr klingelte mein Wecker. Das nervige Bimmeln dröhnte qualvoll in meinem Kopf. Ich versuchte, mich zu drehen, aber mein ganzer Körper fühlte sich verspannt an. Es gab keine Stelle, die nicht schmerzte. Ich knipste das Licht der Nachttischlampe an, und das grelle Leuchten blendete meine übermüdeten, geröteten Augen. Mir war hunde­ elend. Was will denn dieser blöde Wecker von mir? Verdammt, der Zivildienst! Heute ist mein erster Tag! Mit gnadenlosem Pochen hinter meinen Schläfen erhob ich mich aus dem Bett und schlenderte zum Fenster, um mein Spiegelbild zu betrachten. Vier bei Berührung höllisch brennende Brandlöcher zierten meine Brust. Mit dem Anblick der Reliquien der euphorischen Nacht im Blue Bear kehrte auch die Erinnerung an den feuchtfröhlichen Vorabend zurück. Ein breites Grinsen huschte über mein leichenblasses Gesicht. Körperlich fühlte ich mich grauenvoll. Aber ich begann mein neues Leben beim TSV Weiherfelden zu lieben!

Arbeitstechnisch wurde es ein schlimmer Tag.

Ein launisches „Toll, noch so einer!“ war der einzige Kommentar, den meine neue Chefin beim Zivildienst für mich übrig hatte, als ihr eine heftige Alkoholfahne ent­ gegenschlug, die ich weder durch Zähneputzen noch durch Kaugummis oder Schokolade vertuschen konnte. Man hatte mich in den Bereich MSHD eingeteilt. Ich war so froh gewesen, schnell eine Zivistelle ge­ funden zu haben, dass ich gar nicht weiter nachgefragt hatte, welche Aufgaben man im MSHD hatte. Die meisten Zivis waren im Fahrdienst beschäftigt. Aber den ganzen Tag Auto zu fahren war bestimmt auch stinklangweilig.

Am Ende meiner Gebäudeführung zeigte mir meine Chefin Silke den Zivi-Aufenthaltsraum, in der ein kleiner Fernseher und eine alte abgewetzte Couch standen. Zwei Zivis hatten es sich auf der Couch bequem gemacht und sahen sich eine Talkshow an. Silke ließ mich kurz mit meinen Kollegen allein, um in ihrem Büro noch ein paar Unterlagen für mich zu holen.

„Bist du der neue Fahrer?“, fragte einer der Beiden, ohne den Blick vom flimmernden Fernseher abzuwenden.

„Nein, MSHD“, antwortete ich.

„Oh, Arsch abwischen“, kommentierte der andere Zivi und zuckte mitleidig mit den Schultern.

Am liebsten hätte ich meinen Kopf gegen die nächste Wand geschlagen. Du Vollidiot, verfluchte ich mich inner­ lich. Warum konntest du nicht ein einziges Mal dein Desinteresse überwinden und nachfragen, was dieses MSHD überhaupt ist? Meine Vorfreude auf die nächsten 10 Monate kannte keine Grenzen.

„Du siehst aber gar nicht gut aus“, bemerkten meine neuen Kollegen grinsend.

„Wir haben gestern ein wichtiges Fußballspiel gewon­ nen und haben etwas zu viel gefeiert!“

„Wo spielst du denn?“

„Weiherfelden.“

„Wow, dann habt ihr gestern Leimbach aus dem Pokal geworfen? Respekt! Da kann man schon mal einen über den Durst trinken.“

„Oder zwei“, erwiderte ich mit flauem Magen und erinnerte mich unweigerlich an die Brandlöcher auf meiner Brust. Ich überlegte fieberhaft, wie oft ich in den letzten vier Wochen „Was hast du dir nur dabei gedacht?“ gemurmelt hatte. Auf jeden Fall häufiger als während einem ganzen Jahr in Hamburg.

Inzwischen war Silke aus ihrem Büro zurückgekehrt, händigte mir meinen frisch gedruckten Dienstplan aus und gab mir ein paar letzte Anweisungen mit auf den Weg: „Eigentlich hättest du in den ersten Tagen unseren erfahreneren Zivi Ernst begleiten sollen. Aber der ist aktuell krank. Du musst also allein klarkommen. Dafür haben wir dir diese Woche nur leichte Fälle gegeben. Heute wirst du mit Alfred Graubel einkaufen gehen. Der alte Mann ist noch ganz fit. Es sollte also kein Problem sein. Die Adresse steht auf dem Dienstplan. Hier ist der Schlüssel zum Zivi-Dienstwagen.“

Silke machte eine kurze Pause, starrte in mein aus­ drucksloses, kreidebleiches Gesicht und fügte dann ein zögerliches „Noch Fragen?“ hinzu.

„Ja, ähm.“ Die Frage war mir verdammt nochmal peinlich. Silke spähte hektisch auf ihre Armbanduhr und warf mir einen ungeduldig fordernden Blick zu. „Wofür steht eigentlich MSHD?“

Mit ungläubiger Miene starrte Silke mich an, während die beiden Fahrdienst-Zivis erfolglos versuchten, ein prustendes Lachen zu unterdrücken. Ich war auf dem besten Wege, mir hier beim Zivildienst ebenso schnell einen zweifelhaften Ruf aufzubauen wie beim TSV Weiherfelden. Na wunderbar!

„MSHD steht für Mobiler Sozialer Hilfsdienst. Du wirst in den nächsten 10 Monaten praktisch alte, kranke und behinderte Menschen in deren eigener Wohnung im Haushalt unterstützen“, erklärte Silke.

„Und was genau muss ich da machen?“

„Putzen, Einkaufen, Botengänge, Kochen, Betreuung zu Hau­ se. Alles was im Haushalt eben so anfällt.“

Bei der Aufzählung dieser ganzen Aufgaben ging mir der „Arsch abwischen“-Kommentar meiner Zivi-Kollegen nicht aus dem Kopf. Vielleicht war es ja gar nicht so schlimm.

Als ich den Zivi-Dienstwagen aufsperrte, bemerkte ich zum ersten Mal, wie hart das Sparprogramm einer sozialen Hilfsorganisation sein musste. Selbst für einen alles andere als großgewachsenen jungen Mann wie mich war es eine echte Herausforderung, mich in den winzigen Seat Marbella zu zwängen. Der Wagen vermittelte nicht mehr Gefühl von Sicherheit als ein Pappkarton, in dem man mit 100 Stundenkilometern auf eine Mauer zufuhr. Skeptisch drehte ich den Schlüssel im Zündschloss, und siehe da, beim dritten Versuch sprang das Auto sogar an. 10 Monate sind wirklich eine verdammt lange Zeit, dachte ich verbittert.

Alfred Graubel aber war eine positive Überraschung. Der lustige Mann Anfang Siebzig hatte stets einen flotten Spruch auf den Lippen. Auch die Arbeiten, die ich für ihn ausführen sollte, waren halb so schlimm. Holz holen, den Ofen anschüren, den Müll rausbringen. Alles keine große Sache.

„So Junge, jetzt gehen wir einkaufen“, entschied Alfred letzten Endes. Zu Hause konnte er sich geschickt von einem Zimmer zum anderen schleppen. Aber beim Verlassen seiner Wohnung war der alte Mann auf einen Rollstuhl angewiesen. Ich half ihm in den Seat Marbella, was sich als sehr mühsames Unterfangen herausstellte. Wer zum Teufel schafft denn so ein Auto an, wenn man damit alte und behinderte Menschen befördern soll? Als der Rollstuhl im kleinen Kofferraum meiner Schrottkiste verstaut war, ging die Fahrt in das Forchheimer Stadt­ zentrum los.

„Du siehst aber ganz schön übermüdet aus, Junge“, bemerkte mein gehbehinderter Beifahrer.

„Ja, war eine lange Nacht gestern.“

„Gab es etwas zu feiern?“

„Ja, wir haben ein wichtiges Fußballspiel gewonnen.“

„Na dann pass mal auf, dass du keinen Unfall baust, Junge. Immer schön daran denken: Fährst du rückwärts an den Baum, verkleinert sich der Kofferraum!“

Als ich wenig später vier Einkaufstüten voll mit Suppentüten, Backwaren, Obst und Gemüse im Auto verstaut hatte, wollte ich Alfred auf den Beifahrersitz helfen. Doch er schüttelte den Kopf.

„Wir haben noch etwas Zeit. Machen wir doch noch einen kurzen Spaziergang in die Stadt.“

Es war ein warmer, sonniger Tag, und ein Spaziergang durch die Forchheimer Fußgängerzone war mir allemal lieber als Hausarbeit. Leise vor mich hin pfeifend, schob ich meinen Patienten über die holprigen Pflastersteine. Alfred Graubel saß in seinem Rollstuhl wie ein kleiner Provinzkönig. Wir konnten keine fünf Meter gehen, ohne dass uns ein „Servus Alfred“ entgegenschallte. Der alte Mann saß in seinem rollenden Thron und hatte kaum Gelegenheit, seine majestätisch grüßende Hand wieder herunterzunehmen.

„Du bist ja bekannt wie ein bunter Hund“, stellte ich schließlich fest.

„Alles alte Feuerwehrkollegen. Oder Badegäste, die ich früher aus dem Wasser fischen musste. Ich war mal Bademeister im Stadtfreibad. Bleib mal bitte dort drüben stehen. Wir trinken jetzt ein Konterbier!“

„Ein was?“

„Ein Konterbier. Du siehst aus, als hättest du einen ganz schönen Kater.“

Ich hatte am Morgen mein Spiegelbild gesehen. Es hatte keinen Sinn, meinen erbärmlichen Zustand zu leugnen.

„Wenn du nach einer durchzechten Nacht einen Kater hast, musst du am nächsten Morgen einfach ein Alles wieder gut Bier trinken. Dann geht es dir schnell besser.“

„Aber ich muss doch noch fahren!“, winkte ich ab­ wehrend ab.

„Papperlapapp! Ein kleines Bier hat noch niemandem geschadet. Und in deiner lumperten Zivi-Schrottkarre hält dich sowieso keiner an!“

Seit meiner Ankunft in Franken hatte ich irgendwie verlernt, mich gegen das Angebot von Alkohol zu un­ passendsten Gelegenheiten zu wehren. Gehorsam schob ich Alfred an einen freien Tisch. Er bestellte zwei „Seidla“ Bier. Tatsächlich ging es mir nachher besser. Konterbier. Das muss ich mir merken! In meiner Freude über die schluckweise schwindenden Kopfschmerzen ver­ schwendete ich keinen Gedanken daran, wie fahrlässig das Konterbier in diesem Augenblick gewesen war. Vernunft kommt eben erst mit dem Alter. Wobei Alfred das Thema Vernunft offenbar bereits wieder hinter sich gelassen hatte. Alles in allem war es ein lustiger Nach­ mittag mit einem sehr unterhaltsamen alten Mann. Vielleicht war MSHD doch nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte.

In dieser Woche hatte Willi das Freundschaftsspiel bereits für den Samstagnachmittag vereinbart. Denn am Abend war ein Ka­ meradschaftsabend zum Ende der Saisonvorbereitung geplant. Wir waren beim ASV Neundorf zu Gast. Ein leichter Gegner, der eine Klasse unter uns spielte. Es war ein sehr kleiner Ort. Ich wun­ derte mich, wie man in so einem Dörfchen überhaupt eine Fußballmannschaft zusammenstellen konnte. Der ASV Neundorf hatte einen schmalen, holprigen Platz in abgeschiedener Lage neben einem großen Bauernhof. Das Sportheim hingegen befand sich zwei Kilometer entfernt im Ortskern, so dass wir den Fußweg als Aufwärm­ gelegenheit nutzten. Wir führten rasch mit 2-0. Der Gegner war sorgsam ausgewählt, um uns vor dem ersten wichtigen Punktspiel in Hohenstein mit dem nötigen Selbstbewusstsein auszustatten. Nach unserem ruhm­ reichen Triumph gegen Leimbach war das zwar nicht mehr nötig, aber das hatten Willi und Andreas beim Erstellen des Vorbereitungsplans beim besten Willen nicht ahnen können. Kurz vor dem Halbzeitpfiff reihte ich mich zum ersten Mal in die Liste der Torschützen ein. Ein satter Distanzschuss nach einer abgewehrten Ecke besie­ gelte den Halbzeitstand von 3-0.

In der Halbzeitpause setzten wir uns an ein schattiges Plätzchen am Spielfeldrand und stärkten uns mit ein paar Flaschen Wasser. Die Stimmung war locker und ent­ spannt. Wir fühlten uns fit und gut gerüstet für die kommende Saison.

In der 2. Halbzeit sollte ich beim ASV Neundorf die seltsamste Spielunterbrechung meines Lebens erfahren.

Es ereignete sich in der 61. Spielminute. Michi Meister tanzte seinen Gegenspieler aus und setzte zum Schuss an. Er war ein wirkungsvoller Spieler. Aufgrund der körper­ betonten Spielweise des großgewachsenen blonden Angreifers war er für jeden Verteidiger ein unbequemer Widersacher. Trotzdem zeigte er zuweilen technische Defizite und machte ganz sonderbare Dinge. So auch an diesem Tage. Er hatte freie Schussbahn, war knapp 17 Meter vom Tor entfernt. Doch sein Schuss flog gefühlte 20 Meter über das Tor. Trainer Andreas schüttelte an der Seitenlinie fassungslos den Kopf: „Manchmal könnte ich den Kerl an den Torpfosten klatschen!“

Der Ball segelte mit Pauken und Trompeten über das hinter dem Tor gespannte Fangnetz und blieb in gut 50 Metern Entfernung auf dem Hof des Nachbarbauern liegen. Ein kleiner spindeldürrer Bauer in kniehohen Gummistiefeln trat aus dem Stall und blickte den Ball argwöhnisch an. Mit seiner altmodischen runden Brille auf der Nase sah er wie eine Miniaturversion von Lehrer Lämpel aus Max und Moritz aus.

„Hallo Eberhart, kannst du uns bitte schnell den Ball rüberwerfen?“, fragte der gegnerische Spielleiter höflich.

Mit hochrotem Kopf starrte der Bauer auf den Ball. Er machte ganz und gar nicht den Eindruck, als wollte er uns den Ball zuwerfen.

„Ihr Hundsgrüppel! Ihr damischen Säubonkerten!“, polterte er in tiefstem Fränkisch los.

Ich verstand kein Wort. Es hörte sich aber ganz und gar nicht nach einem freundlichen „Klar, ich werf euch euren Ball gleich zu“ an.

„Jeds mol freggn mer mei gelba Rum wecha eura varregtn Fußbäll!“

„Mensch, Eberhart, beruhig dich doch mal!“, versuchte nun auch der Neundorfer Trainer zu beschwichtigen.

„Nein, des is fei echt mei Ernst!“, schimpfte der Bauer Eberhart unermüdlich weiter. „Ich hob die Schnauzn vull vo euch elendigen Brunzkübel euch verregtn! Dabdüdel seid ihr, alle zam! Ihr daabn Sefdl!“

„Komm Manu, dann holen wir den Ball eben!“

Der Torhüter des ASV Neundorf setzte sich auf die resignierte Anweisung seines Trainers in Bewegung und eilte hinter das Tor. Eberhart verzog sich schnaubend zurück in seinen Kuhstall. Er war das zweite echt fränkische Original, dem ich bislang begegnet war. Nach dem eigenartigen Erlebnis an meinem ersten Tag in Weiherfelden war ich heilfroh, dass diesmal nicht ich Ziel des fränkisch-derben Wutanfalls wurde.

Noch bevor der gegnerische Torwart den Fußball erreicht hatte, kehrte Bauer Eberhart mit einer Mistgabel bewaffnet aus dem Stall zurück.

Der Neundorfer Spielleiter unternahm noch einen letzten verzweifelten Versuch, die Wogen zu glätten: „Eberhart, jetzt reiß dich mal zam!“

„Halt euer Goschn alle zam!“, brüllte Eberhart und spießte kurzerhand mit seiner Mistgabel den Fußball auf.

„Na Bravo, ned schon wieder!“, stöhnte der genervte Neundorfer Trainer. „Der Kerl kostet uns noch ein Vermögen!“

„Franz, schieß mal bitte schnell den Ersatzball ins Feld!“, befahl indes der Spielleiter, damit wir nach dieser absurden Situation endlich das Spiel fortsetzen konnten.

„Der is ned da“, antwortete der Neundorfer Auswechselspieler Franz. „Ich glaub, den haben wir in der Halbzeit zurück ins Sportheim gebracht!“

„Verdammt nochmal, heut is aber echt der Wurm drin“, murmelte der wütende Spielleiter. „Dann schau ned so wie a Achhörnla wenns blitzt! Ab ins Sportheim. Wir brauchen einen neuen Ball! Zack Zack!“

Und so harrten wir geduldig aus, bis der arme Ersatzspieler Franz zurück ins zwei Kilometer entfernte Neundorfer Sportheim gewetzt war und einen neuen Ball aufgetrieben hatte.

Dem ungefährdeten 5-0 Erfolg folgte ein hastiges Bier im Neundorfer Sportheim. Dann eilten wir rasch zum eigentlichen Hauptereignis des Tages: dem Kamerad­ schaftsabend zum Ende der Saisonvorbereitung. Wir hatten in den vergangenen Wochen knüppelhart trainiert, Blut und Wasser geschwitzt, und fühlten uns bereit für die schweren Aufgaben, die eine Saison in der Kreisklasse Nord mit sich brachte. Jetzt war es an der Zeit zu feiern. Und dass wir das hervorragend konnten, hatten wir ja schon das eine oder andere Mal eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Auch dieses Mal sollte es wieder ein spektakulärer Abend werden. Zunächst gab es ein zünftiges Essen. Der Dorfmetzger tischte ein knuspriges Spanferkel auf, das wir Neuzugänge und Nachwuchsspieler gemeinsam als Einstand finanzierten. Anschließend flossen Bier und Wein in Strömen.

Nach dem gemeinsamen Abend waren wir selbst­ bewusster als je zuvor. Das herausragende Spiel gegen Leimbach spukte immer noch in unseren Köpfen, und der Zusammenhalt in der Mannschaft war grandios. Wer sollte uns denn in der Kreisklasse Nord schlagen?

Doch das Abschlusstraining am Donnerstag vor dem ersten Punktspiel beim SC Hohenstein endete mit einem Eklat. Die Party-Stimmung des Kameradschaftsabends am vergangenen Samstag war vergessen.

Die Spannung auf dem Fußballfeld war greifbar, als Trainer Andreas mit Argusaugen das intensive Training überwachte. Das erste Punktspiel war stets richtungsweisend. Ein guter Start in die Saison war unbezahlbar. Der Konkurrenzkampf war groß. Ein oder zwei Positionen waren in der Vorbereitung heiß umkämpft gewesen. Und so stritten noch vier bis fünf Spieler um die beiden verbliebenen Plätze in der Startelf. Niemand wollte das wichtige erste Saisonspiel auf der Bank verbringen.

Auch bei Andreas Dietner lagen die Nerven blank. Nach dem Warmlaufen ordnete unser Trainer selbst­ ständiges Dehnen an. Bis sein unerbittlicher Blick Bernd Hagen traf.

„Bernd! Was machst du da?“, polterte Andreas barsch.

„Ich dehne mich“, antwortete der überraschte Bernd, der nicht so recht wusste, was er falsch gemacht haben sollte.

„Ich lass mich von dir doch nicht verarschen!“, brüllte Andreas außer sich vor Wut.

„Soll ich eine andere Dehnübung machen?“, bot Bernd unsicher an.

„Du spielst seit deinem sechsten Lebensjahr Fußball. Du willst mir doch ned erzählen, dass du mit den Fingerspitzen ned weiter als bis zu deinen Knien kommst!“

„Trainer, du weißt doch, dass ich nicht der Schnellste und Gelenkigste bin“, flehte der verdutzte Bernd, der sich bereits erste Sorgen um seinen sichergeglaubten Stamm­ platz machte.

„Du bist ein guter Techniker, deswegen akzeptiere ich es auch, dass du bei einem 100-Meter-Lauf noch an der Mittellinie rumdümpelst, wenn die anderen schon fertig sind. Aber ich lass mich doch nicht von dir zum Narren halten! So ungelenkig kann doch kein Mensch sein! Los jetzt, Fingerspitzen zum Boden, oder es setzt was!“

Aber so sehr sich Bernd auch mit hochrotem Kopf anstrengte, es wollte ihm einfach nicht gelingen. Sprinten und Dehnen war wirklich nicht seine Welt.

„Mir reicht es jetzt! Geh duschen!“

Bernd wollte noch lamentieren, aber ein Blick in das unbeugsame, zornesrote Gesicht seines Trainers belehrte ihn eines Besseren. Zähneknirschend machte er sich auf den Weg in die Um­ kleidekabine und ging frühzeitig unter die Dusche. Unser Training wurde nach dem Vorfall noch intensiver. Jeder wusste nun um Andreas vulkanartiges Gemüt. Niemand wollte vor dem ersten Punktspiel einen Fehler machen.

In der anschließenden Spielersitzung stellte uns Andreas Dietner bestmöglich auf den nächsten Gegner ein. Der SC Hohenstein war kein Unbekannter. Es rankten sich diverse Legenden um die Duelle gegen diese Mann­ schaft, die ich natürlich nicht ernst nehmen konnte. Vermutlich versuchte unser Trainer lediglich, sein vor Selbstbewusstsein strotzendes Team auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, ehe uns die Überheblichkeit noch einen Strich durch die ersten drei Saisonpunkte machte.

Titel: Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse

Amateur-Fußballer Marco Tanner muss sich als “Zugereister“ in die deftige fränkische Lebensweise einfinden, um bei seinem skurrilen neuen Fußballverein Fuß zu fassen.

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