„Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse“, Kapitel 2

"Sonntagsschüsse" Buchcover

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TSC Hersberg – TSV Weiherfelden (Vorbereitungsspiel)

Nachdem in der ersten Vorbereitungswoche mehr Wert auf gegenseitiges Kennenlernen gelegt worden war, zog unser Trainer in der zweiten Woche das Tempo gewaltig an. Ich war anstrengendes Training gewohnt, aber trotz­dem überraschte mich der Ehrgeiz, mit der eine Kreis­klassen­-Mannschaft in der Vorbereitungszeit zu Werke ging. Drei harte Trainingseinheiten pro Woche und ein bis zwei Vorbereitungsspiele standen auf dem Trainingsplan. Kein einfaches Programm für viele Spieler, die den ganzen Tag als Maurer, Dachdecker oder Fliesenleger schwere körperliche Arbeit verrichteten. Ich hatte mir die Kreisklasse gemütlicher vorgestellt. Aber in der Mann­schaft brannte ein unbändiger patriotischer Wille, sich zu quälen, um dem Heimatverein TSV Weiherfelden viele Punkte zu bescheren.

Am Montag der zweiten Woche stand sogleich ein ein­stündiger Waldlauf auf dem Programm.

„Grundlagenkondition aufbauen!“, meinte der Trainer.

Kondition sollte nicht die einzige wichtige Grundlage sein, die ich in dieser Trainingseinheit lernte.

Die Trainingsbeteiligung war hoch. 23 Spieler standen um den Mittelkreis, als unser Trainer die Route für den ersten Waldlauf der Saison erklärte.

„Lauft zuerst vom Sportplatz in Richtung Wasserbassin. Dann eine Schleife um die Festwiese, nehmt den Anstieg beim Ruhweg mit und joggt über die Schlittenbahn zum Birkensteinweg. Dort lauft ihr dann einen Bogen um den Wertstoffhof und kommt zurück zum Sportplatz. Das sollten etwa 12 Kilometer sein. Ich er­warte Zeiten unter einer Stunde!“

Alles klar, überlegte ich zerstreut. Abgesehen davon, dass mir keiner der genannten Orte auch nur im Entferntesten etwas sagte, fand ich eine Stunde für 12 Kilometer recht ambitioniert. Spiele ich Amateurfußball in der Kreisklasse, oder bin versehentlich einer Interes­sengemeinschaft fußballinteressierter Leichtathleten bei­getreten? Aber Jammern und Zetern half uns nicht weiter. Ich war neu hier, und wie im gesamten Leben zählte auch beim Fußball der erste Eindruck. Wenn der Trainer eine Zeit unter einer Stunde erwartete, dann musste er sie be­kommen. Schließlich wollte ich mir beim TSV Weiher­felden schnell einen Namen machen. Das sollte mir mit diesem Waldlauf zweifellos gelingen.

Die Mannschaft setzte sich in Bewegung, ein Pulk trabender Trainingsanzüge in Blau-Gelb. Die meisten Spieler kannten sich untereinander. Bald hatten sich Gruppen mit ähnlich starken Läufern gebildet. Unser Kapitän Harald Gepard war zum Beispiel an vorderster Front dabei. Sie nannten ihn „die Pferdelunge“, und das hohe Tempo, das er gleich zu Beginn vorlegte, machte seinem Ruf alle Ehre.

Ich befand mich im vorderen Mittelfeld. Schnell hatte ich ein Laufpaar mit dem anderen Neuzugang, Stefan Schmidt, gebildet. Er lief in etwa mein Tempo, und in einem Kader, in dem jeder jeden von Kindesbeinen an kannte, war es naheliegend, dass sich die beiden Neuen zusammenrotteten, bis sie einen Zugang zum Rest der Mannschaft gefunden hatten. Stefan war sechs Jahre älter als ich. Er hatte kürzlich sein Staatsexamen als Lehrer bestanden. Daraufhin hatte ihn das bayerische Kultus­ministerium von Straubing nach Forchheim versetzt. So war Stefan auch hier im beschaulichen Weiherfelden gelandet.

Die Spitzengruppe preschte voran. Stefan und ich waren gut beraten, uns nicht von der mörderischen Geschwindigkeit anstecken zu lassen. Unser Tempo sollte ausreichen, um die Vorgabe des Trainers einzuhalten. Und wir wollten nicht auf dem letzten Kilometer einbrechen. Die hinter uns laufende Gruppe bestand aus den eher erfahreneren Spielern. Routinier Klaus Meier führte diese Laufgruppe an, die mit jeden 100 Metern ein paar weitere Schritte zurückfiel.

Als wir die Festwiese passierten, hatten Stefan und ich ein gleichmäßiges Tempo gefunden, bei dem wir sogar kurze Gespräche führen konnten. Wir tauschten uns über die ersten Eindrücke aus: den Trainer, die Mannschafts­kollegen, und den Ort Weiherfelden. Wir waren Beide positiv überrascht. Stefan hatte in Straubing ebenfalls Kreisklasse gespielt und war sehr gespannt, wie das fußballerische Niveau hier in der ländlicheren Gegend in Franken im Vergleich war. Unsere Mannschaft machte spielerisch nach den ersten beiden Trainingseinheiten einen starken Eindruck. Wer weiß, vielleicht war ja sogar der Aufstieg drin!

„Unser Torwart ist nicht schlecht, oder?“, stellte ich fest.

„Ja, wie heißt er noch? Andreas Stieler oder so. Der haut sich echt voll rein!“

„Das stimmt. Ganz schön ehrgeizig. Was hältst du von diesem Niklas?“

„Niklas Dinger, oder? Den kann ich noch nicht richtig einschätzen. Er wirkt auf dem Platz recht wendig und trickreich, aber irgendwie trau ich dem nicht, da er so eine Art Pausenclown zu sein scheint.“

„Aber dieser Bernd Hagen ist ein guter Fußballer, oder?“

„Seine Spielintelligenz ist echt der Hammer, ja. Aber ein bisschen faul, oder?“

„Das schon, aber was der macht, hat Hand und Fuß. Dafür läuft unser Kapitän Harald bestimmt seinen Teil mit.“

„Da hast du Recht. Das ist wirklich ein Tier! Und gegen deinen Freund Michael Meister zu spielen ist auch kein Zuckerschlecken…“

Wir waren inzwischen eine geraume Zeit lang einen schier endlosen Kiesweg entlang gejoggt. Die steile Schlittenbahn hatten wir bereits hinter uns gelassen. Irgendwo muss doch nun dieser verdammte Wertstoffhof kommen. Wir befanden uns auf einem Waldweg. Es waren keine Häuser in Sicht. Stirnrunzelnd blickte Stefan auf seine Armbanduhr.

„Die Stunde ist jetzt gleich vorbei“, keuchte er.

Seltsam, dachte ich. Wir waren an sich ein gutes Tempo gelaufen. Zudem waren wir im vorderen Drittel der Mannschaft, und es war niemand an uns vorbei­gezogen. Wenn selbst wir die eine Stunde nicht schafften, würde mehr als die Hälfte der Mannschaft die Vorgabe reißen. Der Trainer kam doch von hier. Er musste doch einschätzen können, welche Zeit für diese Laufstrecke realistisch war.

„Verdammt!“, rief ich schließlich, als ein unguter Ver­dacht in mir aufstieg.

„Hast du auch das Gefühl, dass wir uns verlaufen haben?“, fragte Stefan besorgt.

„Wir hätten uns wohl besser einer Gruppe mit ein oder zwei Weiherfeldenern an die Fersen heften sollen“, stellte ich seufzend fest.

Es war aber auch dämlich gewesen, dass gerade die beiden Zugereisten, die sich in den Waldgebieten rund um Weiherfelden noch überhaupt nicht auskannten, ein Lauf­paar gebildet hatten.

„Was schlägst du vor?“, fragte ich den älteren Stefan in der naiven Hoffnung, dass ein Lehrer wusste, wie man auf den richtigen Weg zurückfand. Aber Stefan war Lehrer, kein Pfadfinder. Das sollten wir noch schmerzlich er­fahren.

„Irgendwo muss dieser endlose Weg ja hinführen“, antwortete Stefan achselzuckend.

Da zuckte schließlich auch ich mit den Achseln. In dem Augenblick hatte es sich ganz einfach sinnvoll an­gehört.

Wir liefen deutlich weiter als die geforderten 12 Kilo­meter. Beide hofften wir insgeheim, dass der Trainer uns zumindest diesen Eifer hoch anrechnete. Als wir schon den Verdacht diskutierten, dass es sich hier nicht um ein ganz einfaches Dorfwäldchen, sondern um einen weit angelegten Naturpark handeln musste, erblickten wir ein Leuchten am Ende des Weges. Flutlicht! Gott sei Dank!

Wir beschleunigten das Tempo, spurteten um die nächste Wegbiegung, und blieben wie angewurzelt stehen. Ja, es war ein Sportplatz. Aber nicht das Gelände des TSV Weiherfelden. Egal! Die Leute, die hier trainierten, waren aus dem Nachbarort. Sie konnten uns bestimmt sagen, wie wir dorthin zurückkamen.

Verwunderte Blicke durchbohrten uns, als wir uns abgekämpft in den blau-gelben Farben unseres neuen Vereins an den Rand des Platzes stellten. Kurz darauf unterbrach einer der Spieler seine Trainingsübung und schlenderte lässig zu uns herüber.

„Habt ihr euch verlaufen?“, fragte er und begutachtete uns mit einem abschätzigen Blick von oben bis unten. Man kannte sich in den Nachbarvereinen kleiner Ort­schaften. Offensichtlich wurde bereits gerätselt, wer diese beiden neuen Spieler der blau-gelben Weiherfeldener waren.

„Wir sind neu beim TSV Weiherfelden und haben uns tatsächlich beim Waldlauf verlaufen“, lachte Stefan mit einer gebührenden Portion Selbstironie.

„Hubert!“, rief der Spieler des Nachbarvereins einem Funktionär zu, der am Spielfeldrand stand und mit Argus­augen das Training beobachtete. „Die beiden Experten aus Weiherfelden haben sich verlaufen. Bring sie doch mal ins Sportheim. Dann können sie schnell in Weiher­felden anrufen und sich abholen lassen.“

Das ist ja nett, dachte ich, und folgte Hubert treu wie ein Hündchen ins Sportheim.

„Meine Güte, ihr seht ja ganz schö verschwitzt aus. Wollt ihr euch schnell umziehen oder duschen? Bis ihr zurück in Weiherfelden seid, is euer Training dort sowieso scho vorbei.“

Das war ein echt tolles Angebot von Hubert. Stefan und ich waren müde. Die Aussicht auf eine heiße Dusche war sehr verlockend.

„Wir haben ja nichts zum Umziehen dabei. Ich denke, wir lassen uns schnell abholen und duschen dann in Weiherfelden“, erwiderte Stefan freundlich.

„Das ist doch kein Problem. Ich zeig euch die Gästekabine und bring euch schnell Handtücher und Trainingsanzüge. Dann könnt ihr euch kurz ausruhen und duschen, während wir in eurem Sportheim anrufen, damit euch eure Kollegen abholen. Die Trainingsanzüge könnt ihr uns ja morgen schnell vorbeifahren.“

Dieser Hubert war ja beinahe aufdringlich. Aber Stefan und ich dachten uns nichts dabei. Der Gedanke an eine warme Dusche war einfach zu verlockend.

Und so führte uns dieser Hubert in die Katakomben des Sportheims. Gastfreundlich zeigte er uns die Gäste­kabine und die Duschen. Stöhnend zogen Stefan und ich die verschwitzten Trainingsklamotten aus und schlender­ten ausgelaugt über den gefliesten Flur zur Dusche. Das heiße Wasser war eine echte Wohltat.

„Oh Mann, das werden wir uns jetzt ewig anhören müssen!“, lachte ich.

„Vermutlich. Aber es gibt Schlimmeres“, kicherte Stefan. Er wusste nicht, wie Recht er hatte.

Hubert hatte uns noch keine Handtücher gebracht. Bestimmt wurden sie in der Gästekabine bereitgelegt. Stefan und ich hatten bereits ausgemacht, die geliehenen Trainingsanzüge gleich mor­gen Nachmittag zurückzu­bringen und einen Brotzeitkorb für die hilfsbereite Mannschaft des Nachbarortes zu spendieren.

Erholt öffnete ich die Tür. Zumindest beinahe. Denn sie klemmte.

„Willkommen in der Provinz“, murmelte ich zu mir selbst und dachte mir noch, dass es das bei meinem alten Verein in Hamburg nicht gegeben hätte, dass die Tür zur Dusche derart klemmte. Mit etwas mehr Wucht stemmte ich mich gegen die Tür. Nichts passierte.

Stefan gesellte sich neben mich, drückte gemeinsam mit mir gegen die klemmende Tür, aber sie bewegte sich nicht. Na toll, dachte ich. Das passte zu diesem verhexten Tag. Pleiten, Pech und Pannen! Eigenartig, dass die Tür so einfach aufgegangen war, als wir in die Dusche ge­stiegen waren. Moment mal… Verdammt!

„Denkst du das Gleiche wie ich?“, fragte mich Stefan, als er in mein schockiertes Gesicht blickte.

„Haben diese Vollidioten uns hier eingesperrt?“, rief ich un­gläubig. Aber warum sollten sie das denn tun?

In meiner großstädtischen Naivität wusste ich noch nicht, was mich auf dem fränkischen Dorf erwartete. Von diesem speziellen Nachbardorf ganz zu schweigen. Aber woher hätten Stefan und ich auch wissen sollen, dass dies das Sportheim des SV Obsthofen war. Und welch tiefe, sorgsam über Generationen hinweg ge­pflegte Feindschaft zwischen den beiden Orten herrschte. Einige Wochen später erzählte mir unser Kapitän Harald Gepard bei einem Bier, dass sich einst bereits die Weiherfeldener und Obsthofener Großväter auf den Äckern gegenseitig mit Steinen beworfen hatten. Das Derby zwischen dem TSV Weiherfelden und dem SV Obsthofen war jedes Jahr für beide Mannschaften das Highlight der Saison.

Hätten wir das alles damals gewusst, Stefan und ich wären lieber umgekehrt und noch einmal ziellos im Wald umhergeirrt, als uns schutzlos in die Höhle des Löwen zu begeben. Nun war es zu spät. Wir konnten nichts weiter machen, als in der feindlichen Dusche auszuharren und abzuwarten, was der SV Obsthofen mit seinen beiden naiven Gefangenen vor hatte.

Nach einigen Minuten, die Stefan und mir wie Stunden vorgekommen waren, klopfte eine Obsthofener Faust unsanft gegen die Tür. Wir hatten verstanden. Also durften wir nun doch herauskommen. Da wollte uns wohl jemand nur einen kleinen Schrecken einjagen. Ein Seufzen der Erleichterung hallte durch die Dusche. Doch das Schlimmste stand uns noch bevor.

Vor der Dusche wimmelte es vor Menschen. Was ist denn jetzt los?, fragte ich mich. Obsthofener Fußball­spieler versperrten den nach links führenden Weg zurück zur Gästekabine, wo sich unsere verschwitzten Trainings­klamotten befanden. Wir mussten also nach rechts laufen. Die gesamte Mannschaft des SV Obsthofen stand klatschend zu beiden Seiten des Ganges Spalier. Sie amüsierten sich prächtig. Nackt wie Gott uns schuf, folgten Stefan und ich dem durch das Spalier geformten Durchgang, der uns zu einer Treppe führte. Ich glaube von mir behaupten zu können, dass ich durchaus die Fähigkeit habe, über mich selbst zu lachen. Diese Situa­tion aber war so unendlich peinlich, dass ich nicht mehr darüber lachen konnte. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Auch mein Leidensgenosse Stefan blickte be­treten zu Boden, um ja keinem der Obsthofener Spieler in das hämische Gesicht sehen zu müssen.

„Ich hoffe, ich treffe euch mal bei einem Eltern­abend!“, raunte er leise. Ob er das wirklich wollte, hielt ich für fraglich. Welcher Lehrer hatte schon gern Schüler in seiner Klasse, deren Eltern ihn nackt durch die Kata­komben eines Sportheims getrieben hatten? Solche Anekdoten verbreiteten sich in Schülerkreisen schneller als ein Lauffeuer.

Unter dem tosendem Applaus unserer hinterlistigen Peiniger, stiegen wir eine kleine Treppe hinauf, an deren Ende ein ach so freundlicher, diabolisch grinsender Hubert mit gespielter Höflichkeit eine Tür für uns aufhielt. Wir traten durch die Tür – was hätten wir auch anderes tun sollen – und ernteten weiteren Applaus. Das sonderbare Bild, das sich uns beim Verlassen des Obst­hofener Sportheims bot, verfolgte mich tagelang in meinen Träumen.

Etwa zwanzig Zuschauer hatten sich auf dem Parkplatz des Sportgeländes versammelt und klatschten kichernd in die Hände. Wann sonst hatte man die Gelegenheit, zwei Vollidioten aus dem verhassten blau-gelben Weiherfelden nackt aus dem Obsthofener Sportheim taumeln zu sehen? Vereinzelte Frauen, die sich unter den johlenden Zu­schauern befanden, verglichen lautstark mit obszönen Gestern untermalt, was Stefan und ich zu bieten haben. Mit hochroten Köpfen kamen wir vor einem Turm aus fünf Kästen Bier, drei dicken Laiben Brot und einem gewaltigen Haufen Dosenwurst zum Stehen. Verwundert blickten wir uns um. Was hatte es nun damit auf sich?

„Hier sind eure Klamotten“, bellte aus dem Halb­dunkel die missmutige Stimme von Andreas, unserem Trainer. Die drei hinter dem Bierkastenturm verborgenen Mannschaftskollegen konnten sich eine Mischung aus schadenfrohem Grinsen und vorwurfsvoller Miene nicht verkneifen. Trotzdem war ich nie zuvor so froh gewesen, ein Weiherfeldener Gesicht zu sehen.

„Zieht euch an. Wir fahren!“, kommentierte der Trainer trocken, machte auf dem Absatz kehrt und stieg ohne ein weiteres Wort in sein Auto. Gehorsam folgte ich ihm. Stefan kletterte zu Spielleiter Willi in den zweiten Weiherfeldener Wagen.

Die Rückfahrt nach Weiherfelden war still. Niemand wagte zu sprechen. Der Trainer wirkte stocksauer. Wir hatten den TSV Weiherfelden bis auf die Knochen blamiert. Der gesamte Spielkreis würde sich bald über diese Geschichte kaputtlachen. An jenem Tage war mir die Tragweite des merkwürdigen Ereignisses ebenso wenig bewusst wie die Hintergründe, die dazu geführt hatten. Von der tiefliegenden Rivalität mit dem SV Obsthofen erfuhr ich erst einige Stunden später im Weiherfeldener Sportheim. Und auch was es mit den fünf Kästen Bier und der Brotzeit auf sich hatte, verstand ich erst, als Stefan und ich aufgefordert wurden, für unsere Auslöse zu bezahlen. Hubert, der Spielleiter des SV Obsthofen, hatte nämlich wirklich im Weiherfeldener Sportheim angerufen, nachdem er uns in die Dusche gelockt und dort eingesperrt hatte. Das Bier und die Brotzeit waren eine Art fränkisches Lösegeld gewesen.

Zumindest eines meiner hochgesteckten Ziele für die ersten Wochen beim neuen Verein hatte ich in jedem Falle damit erreicht: Ich hatte mir in Weiherfelden rasch einen Namen gemacht.

Im ersten Vorbereitungsspiel beim TSC Hersberg war ich dennoch im Kader der 1. Mannschaft. Hersberg war ein guter Gegner mit einem schönen Sportgelände. Sie zählten zu den Topfavoriten in der Nachbarkreisklasse Süd.

Als wir uns vor dem Spiel in der Umkleidekabine zu einer kurzen Mannschaftssitzung zusammensetzten, blickte Coach Andreas Dietner jedem einzelnen Spieler tief in die Augen. Ich war zutiefst beeindruckt. Unser Trainer schien ein großer Motivator zu sein. Wenn er schon vor einem unwichtigen Vorbereitungsspiel zu solchen Mitteln griff, war ich gespannt, wie Dietner uns auf ein Spiel gegen Obsthofen einstimmte. Woher hätte ich als naiver junger Neuzugang wissen sollen, dass unser Trainer kein versierter Motivator war, sondern sich durch die jahrelange Trainertätigkeit in der Kreisklasse zu einem fleischgewordenen Alkoholdetektor entwickelt hatte? Meine Mannschaftskollegen hatten sogar schon einmal eine Bewerbung an die Fernsehsendung „Wetten dass…“ abgeschickt: Wetten, dass Andreas Dietner aus Weiherfelden allein durch einen kurzen Blick in deren Augen den Promillespiegel seiner Fußballspieler in vier von fünf Fällen genauer einschätzen kann, als ein Verkehrspolizist mit seinem Blasrohr. Leider wurde er nie als Kandidat eingeladen. Er wäre gewiss Wettkönig geworden.

In der ersten Halbzeit schenkte der Trainer seiner etablierten Stammelf das Vertrauen. Aber im zweiten Spielabschnitt kamen die Perspektivspieler aus der 2. Mannschaft und die Neuzugänge zum Zug. Es war ein flottes Spiel, in dem beide Teams zeigten, dass sie über ein hohes spielerisches Potenzial verfügten. Trainer Dietner wechselte mich zur Halbzeit beim Stand von 2-2 auf meiner Lieblingsposition im zentralen defensiven Mittelfeld ein. Für ungeübte Zuschauer meist unspek­takulär, konnte man dort Spiele entscheiden. Nicht durch das Erzielen vieler Tore wie ein Stürmer. Ebenso wenig durch spektakuläre Rettungsaktionen vor dem eigenen Tor wie ein starker Abwehrspieler. Unauffällig und doch effizient, konnte man die Angriffe der gegnerischen Mannschaft bereits im Keim ersticken, bevor sich die brenzligen Situationen überhaupt entwickelten.

Alles in allem war mein erster Einsatz für den TSV Weiherfelden ein solides Debüt. In jedem Falle hatte ich bei dem 3-3 in Hersberg eine weitaus bessere Figur ge­macht, als bei meinem nackten Irrlauf durch das Obst­hofener Sportheim.


Die „Sonntagsschüsse“ erscheinen jeweils am Sonntag  😉
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Titel: Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse

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