Sonntagsgedanken: Ausgewogenes Urteil
„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.“
Rainer Maria Rilke blickt hier zuversichtlich auf sein Leben, will es tatkräftig gestalten, deutet das Leben als ein Reifen und Wachsen. Die Verse 1 und 2 verstehe ich dahingehend, dass der Mensch mit zunehmendem Alter „die Dinge“, also die täglichen Ereignisse nicht mehr spontan, unvoreingenommen wahrnimmt, sondern durch die „Ringe“ seiner positiven wie negativen Erfahrung. Rilke „kreist“ um Gott und trifft damit das, was die Bibel mit Glauben bezeichnet. Das „Kreisen“ um Gott beinhaltet aber auch, dass wir Gott, unsere Lebensmitte nicht mit unserem Verstand erfassen können. Den „Turm“ deute ich als Bild für die Stärke, Größe und Weisheit Gottes. Vom „Turm“ aus kann man die „Dinge“ überblicken, steht über ihnen. Bedauerlich finde ich nur, dass Rilke die asiatische Wiedergeburtslehre aufnimmt, denn wir „kreisen“ nicht „jahrtausendelang“ um Gott, sondern nur ein Leben lang, und jetzt gilt es, sich verbindlich zu entscheiden, zu bewähren. Schade, dass Rilke auch nicht weiß, wer er ist, hierin freilich typisch für viele Menschen unserer Zeit, die heute diesem, morgen jenem Trend nachlaufen. Wir Christen wissen, dass wir durch unsere Taufe nicht nur Geschöpfe Gottes sind, sondern Anteil bekommen an dem, was Christus für uns getan hat: Wie schwer unsere Schuld sein mag, wie elend unser Schicksal, Christus hat all dem die Macht, den Schrecken genommen. Er begleitet und trägt uns jetzt und in der letzten Not. Er führt uns zu Gott, der eben nicht rätselhaft und abweisend wie ein steinerner „Turm“ ist, hinter dessen Mauern niemand schauen kann, sondern für jeden ein Zimmer in seiner neuen Welt bereithält.
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Pfarrer Dr. Christian Fuchs, www.neustadt-aisch-evangelisch.de
Infos zu Christian Karl Fuchs:
- geb. 04.01.66 in Neustadt/Aisch
- Studium der evang. Theologie 1985 – 1990 in Neuendettelsau
- Vikariat in Schornweissach-Vestenbergsgreuth 1993 – 1996
- Promotion zum Dr. theol. 1995
- Ordination zum ev. Pfarrer 1996
- Dienst in Nürnberg/St. Johannis 1996 – 1999
- seither in Neustadt/Aisch
- blind
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