Leserbrief: Volksparteien bewerten ihre Politik

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Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Bedingungen, in Deutschland zu Fuß zu gehen, mit dem Rad bzw. Bahn oder Bus zu fahren, sind dem unbescholtenen Menschen nicht zumutbar. Diese Feststellung stammt nicht etwa aus dem Mund oder der Feder fundamentalistischer Autoverweigerer, die die mangelhafte Qualität der Alternativen zum motorisierten Untersatz beklagen.

Das vernichtende Urteil entspringt vielmehr den Berliner Koalitionsverhandlungen. Unmotorisiert mobil sein zu müssen, gestaltet sich nach Ansicht von CDU, CSU und SPD dermaßen katastrophal, daß es zur Ahndung strafrechtlicher Delikte geeignet erscheint. Nur stellt sich da schnell die Frage nach der Verantwortung für solch abschreckende Zustände. Denn in allen Bundes- und Landesregierungen sowie in der übergroßen Mehrzahl der kommunalen Vertretungen waren CDU, CSU und SPD entscheidend beteiligt.

Zugegeben: Besagte Einschätzung schießt über das Ziel hinaus. Die Idee des Führerscheinentzugs bei Delikten, die nicht mit dem Verkehr zusammenhängen, paßt in den Fasching oder zum 1. April. Doch wie so oft findet sich auch hier (nicht nur) ein Fünkchen Wahrheit:

Der Nachholbedarf für die Verkehrsmittel des Umweltverbunds, eben Gehen, Fahrrad-, Bahn- oder Busfahren und deren Vernetzung, ist unübersehbar. Die notwendige Senkung der Luftverschmutzung, des Flächenverbrauchs, der Energie- und Rohstoffvergeudung, der Lärmbelastung, der Zahl direkter (Unfälle) und indirekter (lärm-, luftschadstoff- und bewegungsmangelbedingte Erkrankungen) Verkehrsopfer, eine Erhöhung der Aufenthaltsqualität in der Stadt, aber auch in der Landschaft ist ohne Wende in der Verkehrspolitik nicht denkbar.

„Deutschland ist auch eine Fahrradnation“, betonte Bundeskanzlerin Dr. Merkel anläßlich der Eröffnung der EUROBIKE in Friedrichshafen – und sollte ein Bahnland werden, möchte man ergänzen. Zwar fällt es schwer, ihr dies als ehrliches Bekenntnis abzunehmen – angesichts ihres Arbeitsplätze gefährdenden Brüsseler Eintretens zu Gunsten antiquierter Autotechnik. Dennoch wirkt ihre Aussage wie eine schallende Ohrfeige für Bambergs Oberbürgermeister Starke, der den Weg zur Autostadt als Vision für eine gedeihliche Zukunft preist.

Nein, Herr Starke! Wir brauchen eine Stadt für Menschen! Ein gut gestalteter Umweltverbund macht sie mobil, ohne ihren Lebensraum so nachhaltig zu zerstören, wie es die aufs Auto zugeschnittene Verkehrs- und Siedlungspolitik tut. In Berlin hingegen fallen fatale Entscheidungen: eine Maut, die Vielfahren belohnt; Entlastung des klimaschädlichen Flug-, Belastung des vergleichsweise umweltverträglichen Bahnverkehrs; weiterhin horrende Mittel für den Ausbau des weltweit dichtesten Straßennetzes, Auslaufen der Förderung öffentlichen Nahverkehrs, „Peanuts“ für das Fahrrad, quasi nichts für den fußläufigen Verkehr.

„Eine Stadt ist nicht zivilisierter, wenn sie große Autostraßen hat, sondern, wenn ein Kind auf einem Dreirad unbeschwert und sicher überall hinkommt“ (Enrique Peñalosa, ehemaliger Bürgermeister Bogotás).

Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Bönig