Uni Bayreuth: Neue Studien zu Theorie und Praxis von Kindspflegschaften in Westafrika

Symbolbild Bildung

Familiäre Eltern-Kind-Beziehungen im Wandel

In Europa wachsen minderjährige Kinder in der Regel nur dann bei Pflegeeltern auf, wenn ihre Versorgung und Erziehung durch die leiblichen Eltern nicht möglich oder stark gefährdet ist. In Westafrika hingegen sind die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern viel flexibler geregelt. Hier ist es normal und üblich, dass Kinder nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen. Auch ohne dass Krankheit, Tod oder Armut der leiblichen Eltern dies erzwingen, leben sie häufig in der Obhut von anderen Erwachsenen, die sie als Eltern erleben und respektieren. Diese sozialen Eltern-Kind-Beziehungen werden durch die fehlende biologische Abstammung keineswegs beeinträchtigt und von den leiblichen Eltern anerkannt, in vielen Fällen sogar gewünscht.

Ein neues Buch, das die Bayreuther Sozialanthropologin Prof. Dr. Erdmute Alber initiiert und mitherausgegeben hat, befasst sich mit den Gründen und Folgen dieser gesellschaftlichen Praxis unter anthropologischen, historischen und rechtlichen Aspekten. “Child Fostering in West Africa. New Perspectives in Theory and Practices“ lautet der Titel des Bandes, der auf faktengestützte und vorurteilsfreie wissenschaftliche Analysen abzielt und gerade auch im Kontext der gegenwärtigen Debatten in Deutschland um neue Familienformen eine aktuelle Relevanz hat. Die Autorinnen der Beiträge, die an Universitäten in Deutschland, den Niederlanden und den USA lehren, können auf umfassende eigene Forschungserfahrungen in Westafrika zurückblicken. Sie knüpfen gezielt an die Lebenswirklichkeit, die Emotionen und die Wertvorstellungen der Menschen in verschiedenen Regionen Westafrikas an. So entsteht ein differenziertes Bild eines sozialen Phänomens, das aus europäischer Perspektive zunächst befremdlich scheint.

Kindspflegschaften in Westafrika: eine flexible gesellschaftliche Praxis

Die Praxis der Kindspflegschaft in Westafrika ist erst seit den 1970er Jahren in den Fokus der wissenschaftlichen Forschung gerückt. In der britischen und der französischen Ethnologie richtete sich das Interesse vorzugsweise auf Institutionen und etablierte gesellschaftliche Strukturen, in die sich Verwandtschaftsbeziehungen aller Art – also auch biologische und soziale Eltern-Kind-Beziehungen – einordnen lassen. Erdmute Alber plädiert hingegen für eine Herangehensweise, die vor allem die beteiligten Akteure mit ihren speziellen Sichtweisen, Interessen, Emotionen und Konflikten in den Blick nimmt. Sie definiert Verwandtschaft als eine Form der Zugehörigkeit, die primär nicht in biologischer Abstammung, sondern im Bewusstsein der Menschen verankert ist und ihren konkreten Ausdruck in Symbolen, Handlungen, Emotionen und sozialen Erwartungen findet. Dementsprechend sei Kindspflegschaft nicht als eine statische Institution, sondern vielmehr als eine flexible gesellschaftliche Praxis aufzufassen. Die Zugehörigkeit der Kinder werde von den leiblichen Eltern auf die Pflegeeltern für einen längeren Zeitraum übertragen, ohne dass dieser Transfer einen endgültigen, unveränderlichen Zustand begründen würde. Stattdessen bleibe die Zugehörigkeit der Kinder, wie auch die familiären Beziehungen insgesamt, in einen gesellschaftlichen und kulturellen Fließzustand eingebettet, der sich starren institutionellen Regeln entzieht.

In einer Fallstudie zur Volksgruppe der Fée im Nordosten Benins zeigt die Bayreuther Ethnologin Dr. Jeannett Martin, wie unterschiedlich die sozialen und emotionalen Erfahrungen von Pflegekindern sein können, die in der Obhut von Verwandten leben. Handelt es sich um Verwandte der leiblichen Mutter, erleben die Kinder ihr familiäres Umfeld als beschützend, vertrauensvoll und tolerant; wachsen sie hingegen bei Verwandten des leiblichen Vaters auf, sind sie viel häufiger mit Konflikten, Unsicherheit und autoritärem Verhalten konfrontiert. Die Autorin setzt diesbezügliche Kindheitserzählungen ins Verhältnis zu den Normen und Wertvorstellungen, die bei den Fée allgemein anerkannt sind und die Beziehungen von Familienangehörigen untereinander regeln. Dieser normative Rahmen wird aber, wie die Vielzahl der untersuchten Einzelfälle deutlich macht, von den beteiligten Akteuren sehr flexibel gehandhabt. Er ändert sich auch mit dem Wandel der sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die ihrerseits auf die Kindheitserinnerungen der Erwachsenen einwirken.

Kindspflegschaften im Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Rechtsnormen

Zahlreiche westafrikanische Staaten sind von einem Rechtspluralismus geprägt: Gewohnheitsrecht, religiöse Rechtsnormen, staatliches Recht und internationales Recht bestehen mehr oder weniger konfliktfrei nebeneinander, ohne in ein einheitliches Rechtssystem integriert zu sein. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Kinder, Pflegeeltern und leibliche Eltern? Diese Frage untersucht Prof. Dr. Ulrike Wanitzek, Professorin für Recht in Afrika an der Universität Bayreuth, am Beispiel Ghanas. Adoption und Pflegschaft werden gewohnheitsrechtlich – meistens auch von den leiblichen Eltern – als Möglichkeiten aufgefasst, die Entwicklungs- und Bildungschancen von Kindern zu verbessern. Daher werden nicht selten Familienangehörige, die ins westliche Ausland migriert sind, als Pflegeeltern ausgewählt. Im nationalen staatlichen Recht und im internationalen Recht dominiert hingegen die Vorstellung, Adoption und Pflegschaften seien Not- und Ersatzlösungen für Kinder, die ihr eigentliches familiäres Umfeld verloren haben; Adoptiv- und Pflegeeltern seien „Dritte“, die außerhalb der ursprünglichen Eltern-Kind-Beziehungen stehen.

Aus diesem Nebeneinander verschiedener Konzepte und Rechtsauffassungen ergibt sich ein komplexes Geflecht von Interessen und Ansprüchen. Die zunehmenden internationalen Verflechtungen der westafrikanischen Staaten bringen weitere Herausforderungen mit sich: Wenn im Ausland lebende Eltern ihre Pflegekinder auf Dauer zu sich holen wollen, ist es in der Regel erforderlich, die gewohnheitsrechtlich begründete Pflegschaft in eine staatlich anerkannte Adoption umzuwandeln. Die Zugehörigkeit von Kindern zu ihren Pflegeeltern ist im Verständnis der beteiligten Akteure ursprünglich ein flexibler Zustand, der sozialen Aushandlungsprozessen unterliegt; doch im Zuge der Globalisierung und internationaler Migrationsbewegungen wächst der Druck, diesen Zustand ungeachtet seiner kulturellen Wurzeln rechtsverbindlich zu fixieren.

Veröffentlichung:

Erdmute Alber, Jeannett Martin and Catrien Notermans (eds.),
Child Fostering in Africa. New Perspectives on Theory and Practices.
Africa-Europe Group for Interdisciplionary Studies, Vol. 9.
Leiden – Boston 2013, 250 pp.