Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 91

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Der Krüppel

Hedwig wollte herausfinden, ob da überhaupt einer im Ort diesen Herrn Rapp kennt. Dazu steuerte sie ein Haus an, aus dessen Fenstern das Licht besonders warm, Vertrauen erweckend und einladend drang. Nach dem Klopfen ging das spärliche Hoflicht an. Ein Mann erschien im Halbdunkel des Türrahmens.

Die Jungen sahen, dass ihre Mutter sich mit ihm unterhielt und er schließlich Schultern und Arme unwissend hob. Eine jüngere Frau ließ sich blicken. Sie gab Hedwig dann doch mit ihren Händen eine Wegbeschreibung.

„Die Frau hat gesagt, dass der Herr Rapp ein Kriegskrüppel is. Der wohnt in Untermiete bei dem Bäcker. Immer nur geradeaus, das vorletzte Haus links.“

Das Wort Krüppel musste sie momentan etwas ratlos gemacht haben. Hans hatte das gespürt.

„Na, das kann ja heiter werdn. Wie willdn der uns über die Grenze führn, wenn der selber ein Krüppl is?“

„Hauptsache, wir sind erst mal hier gelandet. Das wird schon werdn mit der Mutter Bärdn. Mit der Mutter Born is ja ohch geworn!“

Mit diesem Spruch aus ihrer eigenen Kindheit hatte sie früher ihre vier Jungen bei jeder Kleinkinderverzagtheit immer wieder trösten und aufrichten können. Sie gingen weiter die Straße entlang und sagten nichts mehr. Der Herbstwind drückte die Büsche in den Vorgärten platt, riss das letzte Laub von den Bäumen und wirbelte es vor ihnen her.

„Mama, da steht Bäckerei!“

Mill deutete auf ein Schild. Hedwig stieg die paar Stufen zur Ladentür hinauf und drückte den Knopf. Kein Klingelton. Dann versuchten sie es beim Seiteneingang. Sie klopfte, dass ihre Fingerknöchel schmerzten. Drinnen dudelte ein Radio. Jetzt schlug Hans mit der Faust an die Holztür. Das Radio verstummte. Von innen näherten sich Schritte.

„Wer ist draußen?“ Eine Frauenstimme. Noch bevor Hedwig antworten konnte, drehte sich ein mühsamer Schlüssel. Die Tür öffnete sich im Winkel der straff gespannten Sicherheitskette. Ein misstrauisch blickendes Frauengesicht erschien. Ob hier ein Herr Rapp wohnt. Die Frau wandte sich nach innen, rief mit greller Stimme „Herr Rapp, Besuch!“ und hängte die Türkette aus.

Hinten im Gang öffnete sich eine Tür. Ein kurz geschorener, dunkelhaariger Mann kam heraus. Die Frau blieb zuerst noch stehen, wiederholte ihren Herr Rapp-Besuch-Ruf etwas leiser und schlurfte dann wieder zu ihrem Zimmer.

Herr Rapp war so Mitte dreißig. Er trug ein langärmliges Männerunterhemd mit einer mittleren Knopfleiste. Über seine Schultern hatte er sich einen weiten, knöchellangen Wehrmachtsmantel gehängt. Er begrüßte Hedwig mit ernstem Gesicht, sagte nur „Gestatten, Rapp“ und schlug dabei die Absätze seiner Halbschuhe mit leisem Schleifgeräusch aneinander. Hedwig wollte ihm ihre Hand zur Begrüßung reichen. Aber da sah sie einen leeren Ärmel seines Unterhemds aus dem übergehängten Militärmantel herausbaumeln. Einen Augenblick war sie in Verlegenheit. Dann zog sie ihre Begrüßungshand unauffällig aber doch verlegen zurück.

„Habe Sie und Ihre Lieben eigentlich erst morgen erwartet. Sie werden wohl dafür Verständnis haben, dass ich Ihnen heute mein unaufgeräumtes und enges Junggesellenzimmer nicht zumuten möchte.“

Hedwig wollte das Vereinbarte gleich erledigen, hielt den Hunderter schon im gefalteten Umschlag in der Manteltasche. Aber angesichts des leeren Ärmels schien ihr das irgendwie kümmerlich und knickrig zu sein. Freilich hatte sie einfach nicht mehr und musste noch an die drei Jungen und sich selbst denken.

Herr Rapp empfahl ihr, sie möchten doch erst einmal vorausgehen. Dann in Richtung Ortsausgang und damit Zonengrenze abbiegen. Er dürfe hier absolut nicht auffallen. An einem weithin sichtbaren Baum sollten sie auf ihn warten.

Er werde dann schon bald zu ihnen stoßen. Hedwig machte sich mit ihren drei Jungen auf den beschriebenen Weg. Jetzt fiel zum ersten Mal seit der Abfahrt ein Teil der Zentnerlast von ihr ab. Sie fühlte eine tiefe Gewissheit, sich und ihre Jungen diesem Mann blind anvertrauen zu können.

„Mama, ich glaub, ich kannich mehr“, quengelte der Jüngste.

„Wennwer erst beim großn Baum angekomm sind, dann kannste dich a bissl ausruhn.“

Den fremden Ort hatten sie jetzt hinter sich gelassen. Auf dem zerbröselten Asphalt der Landstraße gingen sie, fast wie Blinde, einem versprochenen Ziel entgegen. Jank entdeckte als Erster den großen Baum.

Wie ein riesiges Gespenst, das seine zerfaserten Arme ausbreitet, hob er sich vom Nachthimmel ab. Als sie endlich davor standen, ging Hedwig zuerst einmal sichernd um den mächtigen Stamm herum. Erst dann lehnte sie sich im Windschatten an die Rinde, ließ sich daran heruntergleiten und setzte sich zwischen zwei gewaltige Wurzeln. Sie hatte noch Fettbrote aus Drahnsdorf in der Tasche. Die waren zwar schon trocken und aufgewölbt, aber die beiden Jüngsten verschlangen sie, ohne auch nur im Geringsten daran zu denken, ihr etwas davon anzubieten. Nur Hans fragte erstaunt: „Warum isst dudn nich?“

„Esst nur, Hauptsache, euch schmeckts! Aber langsam und immer gut kaun!“

Fast zur gleichen Zeit hörten Jank und Mill auf zu kauen. Aus der Dunkelheit löste sich eine menschliche Gestalt heraus, die sich über die Straße auf sie zu bewegte. Hedwig zwang sich, ihrer Stimme einen zuversichtlichen Ton zu geben.

„Das wird der Herr Rapp sein. Wir gehn ihm schon mal entgegen!“

Alle machten ein paar zögernde Schritte auf die Gestalt zu. Er war es. Herr Rapp entschuldigte sich für die Verzögerung und erklärte, dass er einen Umweg habe gehen müssen, um nicht aufzufallen. Um diese Zeit sei hier normalerweise keine Menschenseele mehr unterwegs. Es gäbe leider auch jetzt wieder Leute, die sich für ein paar Mark als Verräter andienten und ihre eigenen Landsleute verkauften.

Hier an der Zonengrenze setze der Russe Doppelstreifen ein. Diese könnten, wenn sie angetrunken seien, besonders schnell von der Maschinenpistole Gebrauch machen. Deshalb erließ er ab jetzt für alle ein soldatisch klingendes „absolutes Sprech-und Taschenlampenverbot“.

„Lampm hamwer sowieso keine“, beruhigte ihn Hans.

Herr Rapp ging ihnen voran und bog auf einen Feldweg ein. Dann versammelte er alle noch einmal vor sich, um seine letzten Anweisungen zu geben. Ein paar hundert Meter sollten sie weitergehen, dann einfach eine Brücke überqueren. Das sei dann schon die englische Zone. Drüben käme nach ein paar Kilometern eine Ortschaft mit einem kleinen Bahnhof. Herr Rapp wünschte Hedwig alles Gute, machte seine knappe Verbeugung und wurde rasch von der Dunkelheit verschluckt.

„Aber Herr Rapp, das Vereinbarte!“

Hedwig rief es ihm noch in seine plötzliche Unsichtbarkeit hinterher. Bestimmt würde er es gleich merken und zurückkommen.

Einer, der im Krieg so verstümmelt worden war, dass es sich noch nicht einmal lohnte, ihn als Kriegsgefangenen schuften zu lassen, der keine Arbeit und kein Geld hatte – so ein Mensch konnte doch nicht einfach den vereinbarten Hunderter vergessen. Sie warteten deshalb noch eine Weile und schauten ihm in die Finsternis nach. Ein zweites Mal hinterherzurufen, das trauten sie sich nicht. Herrn Rapps Warnung vor den angetrunkenen Doppelpatrouillen und ihren Maschinenpistolen war allen noch frisch im Gedächtnis. Hedwig schüttelte immer wieder den Kopf. Schließlich steckte sie ihren Umschlag weg.

So gingen sie ihrer Brücke entgegen. Für Hans war es klar, dass er als Erster über die Brücke gehen würde. Schließlich war er jetzt der älteste Bruder, hatte in Drahnsdorf die ganze Familie miternährt und hatte als Vorhut in Berlin die geheime Flucht schon vorbereiten müssen. Auch wusste er schon, welchen Namen er der Brücke geben würde. Brücke des Westens sollte sie heißen.

Sie waren sterbensmüde. Die unmittelbar greifbare Freiheit trieb die Schritte an. Der Mond hatte sich ein großes Wolkenloch erobert und ließ die Angst vor Entdeckung wieder aufleben. Gerade jetzt wären sie eine ideale Zielscheibe gewesen. Hans war schneller vorausgegangen, drehte sich jetzt um.

„Da isse, die Brücke! Ich seh schon das Geländer!“

Er stieg die steile Uferböschung hinunter, noch bevor der Rest seiner Familie angekommen war.

Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.