Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 89
Die Astern
Sie kamen hungrig aus der Schule. Noch bevor sie ihre Taschen von der Schulter gestreift und gefragt hatten, was es zu Mittag gibt, sagte Hedwig beiläufig:
„Heute fahren wir nach Berlin.“
Beim Anblick der kahlen Stube fragte keiner mehr, ob das heute der letzte Tag sei. Das Zimmer sah so aus, wie sie es bei der Einquartierung vorgefunden hatten. Nach der Mehleinbrennsuppe nahm Hedwig den Besen, holte eine Spinnwebe von der Zimmerdecke, fegte ein paar tote Fliegen vom Fensterbrett auf die Kehrichtschaufel und ließ sie in die Ofenklappe gleiten.
„Soll mir keiner komm und sagn, dass hier nich Sauberkeit und Ordnung war. Naja, der Pulleimer.“
Sie ging hinaus in den Hof, um Adelheid Lettau zu holen. Vorsichtig löste Mill seine rote Geburtstags-9 von der Wand, faltete sie klein und steckte sie in seine Manteltasche.
„Die Adelheid wattet schon.“
Hedwigs ungeduldige Stimme rief aus dem Hausflur.
Als sie auf den Hof hinauskamen, stand Adelheid Lettau ohne Strümpfe oder Socken in ihren schweren Stallpantinen da. Mill starrte gebannt auf die tiefen Risse, die sich in den dicken Hornhautschwielen ihrer Fersen gebildet hatten. Dass sie bei dieser lausigen Herbstkälte nicht fror, war ihm unbegreiflich.
Adelheid wischte sich ihre frisch gewaschenen Kuhstallhände an der Kittelschürze trocken. Nachdem die beiden Frauen sich umarmt hatten, kamen die zwei Brüder dran. Joachim roch den Stallgeruch an ihr. Das Umarmen hatten sie noch nie gemocht, weil dabei meistens Tränen flossen und weil dabei fast immer das blöde Schluchzen zu hören war. Wenn ihre Mutter sie mal knuddelte, das war etwas ganz anderes.
Adelheid hatte wässrige Augen und sagte, dass ihr Vater auf dem Acker sei.
Als sie dann durch den kleinen Einlass im Hoftor auf die Dorfstraße kamen, fiel der Blick noch auf ihren Roggen und ihre Kartoffeln. Unter der überdachten Hofeinfahrt lehnte die Ernte in Säcken verschnürt an der Wand. Alle waren froh, dass der Hans Lettau auf dem Feld war. Für ihn, den Stillen, wäre es bestimmt eine Qual gewesen, dieser Frau und ihren zwei letzten Söhnen irgendetwas zum Abschied zu sagen. Hedwig erklärte der Bauerntochter noch, sie könne die kupferfarbene Steppdecke behalten. Das Stück habe sie vor einem Jahr geschenkt bekommen, und zwar von dem Kammersänger Axel Straubert. Die Decke sei wie neu. Nur die Daunen etwas klumpig. Deswegen habe Hedwig sie auch schon seit heute früh zum Auslüften auf die Leine hinter die Scheune gehängt. Daunen seien ja nicht mit Gold aufzuwiegen und sie könne sich vorstellen, dass die sich mal später in Berlin über einem Ehebett gut machen würde.
Die beiden Brüder waren schon ein paar Schritte vorausgegangen, ließen die Tasche ihrer Mutter an den Henkeln sanft pendeln. Die war wirklich nicht besonders schwer und sah auch nicht auffällig prall gepackt aus. Jetzt kamen sie an ihrer Dorfschule mit den zwei Klassenzimmern vorüber. Noch am Vormittag hatten sie da drin das schriftliche Teilen geübt, etwas über den Hektoliter und den Zentner gelernt.
Keiner der beiden lenkte seinen Blick absichtlich vom Schulhaus weg.
Keiner erinnerte sich jetzt an irgendein Erlebnis, das er darin gehabt hatte.
Keiner dachte im Stillen an die Sitzbank, die er darin einmal gedrückt hatte.
Keiner stellte sich dabei das Gesicht seiner Lehrerin vor oder grübelte gar nach, dass er ab morgen dieses Haus nie mehr betreten wird.
Es war nur so, dass sie die Schule einfach nicht mehr sahen. Sie gehörten nicht mehr dazu und gehörten noch nirgendwo hin. Nur an den Abkürzungsweg direkt über das Bahngleis dachten sie. Und dass es gut war, heute keinen Handwagen dabeizuhaben.
Nicht einmal ihr Acker wurde von irgendeinem Gedanken auch nur gestreift. Jank hatte den stählernen Bogen, seine Schleuder mit dem Vierkantgummi aus einem kaputten Autoschlauch und die letzten Hufnagelkuppen seinem Freund Rolf überlassen. Mill hatte keinem etwas überlassen. Er hatte nichts zu vererben, weil er so ungeschickt war.
„Habter euch wenichstns anständich von eurem Freund Rolf verabschiedet? Der hat euch doch so viel Guttes getan!“
Sie schwiegen.
Doch da stand auch schon der Rolf. Verlegen hielt er einen Strauß mit Astern nach unten. Beide Brüder taten so, als ob sie das nicht sehen würden. Noch nie hatte ihnen jemand Blumen geschenkt. Immer war es andersherum gewesen – der geklaute Flieder zum Muttertag oder der Gänseblümchenstrauß an Fräulein Grönings Geburtstag.
„Wie bistn du so schnell gekomm?“
Rolf deutete auf das Damenrad seiner Mutter, das an der Bahnhofswand lehnte. Er keuchte noch.
Hedwig sah den dunklen Lokomotivenpunkt näher kommen.
„Nu is Zeit zum Verabschiedn.“
Die Jungen reichten sich ungelenk und mit flüchtigem, laschem Druck die Hand. Rolf biss sich auf die Unterlippe und die Augen glänzten ihm. Seinem Blick hielten sie nur ganz kurz stand. Rolf gab Mill seinen großen Asternstrauß. Der reichte ihn an seine Mutter weiter. Wie etwas, das nicht zu ihm gehört. Man konnte es ihnen nicht ansehen, dass sie einmal Freunde waren. Es war kein Abreisen oder Wegziehen. Es war ein Abhauen und spurloses Verduften. Eigentlich ein kleiner Verrat.
Das Zischen der Dampfventile und ein spitzer Ruf der Trillerpfeife machten dem verkrampften und undankbaren Abschied ein gnädiges Ende. Als sie im Abteil waren, ließen sie noch einmal das Fenster herunter. Rolf war ihnen auf dem Bahnsteig gefolgt und stand jetzt genau unter ihnen. Der Zug ruckte an. Sie winkten und winkten, als ob sie etwas Versäumtes nachholen wollten.
“Es zieht!“
Der alte Mann knurrte es so ungeduldig heraus, dass Hedwig sich bei ihm entschuldigte und dann selbst das Fenster am Riemen hochzog. Jank flüsterte seinem Bruder „Der Arsch“ zu und Hedwig betrachtete den Asternstrauß wohlwollend von allen Seiten.
„Die Frau Snura wird sich freun. Die is, glaubich ganz verrickt nach Astern.“
Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.
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