Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 87
Die 9
Einen Tag vor seinem Geburtstag kamen in Mill diese sonderbaren, eitlen Geburtstagsvorgefühle auf. In der Schule überlegte er sich, ob er das Fräulein Gröning nicht irgendwie auf dieses Datum aufmerksam machen sollte. Vielleicht könnte er es irgendeiner Petze sagen, die es der Lehrerin dann weitersagt. Oder in der Pause so ganz zufällig einen seiner Klassenkameraden fragen, wann der Geburtstag habe. Und wenn der dann sein Datum verrät, könnte man ja so ganz nebenbei, aber natürlich unüberhörbar „Ich hab morgen.“ sagen. Dabei müsste das Fräulein Gröning natürlich ganz nahe stehen.
Am nächsten Tag würde sie nach der Pause mit dem Zeigestab ungeduldig auf ihr Pult klopfen, Mill vorher noch einen freundlichen Blick zuwerfen und dann allen Kindern im Klassenzimmer laut und deutlich verkünden:
„Hört mal alle her! Wir haben heute ein Geburtstagskind unter uns.“
Und dann würde sie seinen Namen sagen. Er hörte es immer gern, wie sie seinen Namen aussprach. So anders klang Joachim aus ihrem Mund, weil sie das a so betonte. Alle würden auf ihn schauen und er würde rot werden. Aber es würde trotzdem schön sein.
Wie er es auch drehte und wendete, alle Methoden erschienen ihm zwar recht wirksam, aber letztlich zu plump und aufdringlich zu sein. Er glaubte, dass sein Geburtstag für die Familie in dieser Zeit der geheimen Fluchtvorbereitung eher eine Störung war. Vielleicht hätte er in der Schulklasse mehr Aufmerksamkeit bekommen, als in der kahlen Wohnstube beim Lettau.
Vielleicht hätte ihm dann sogar ein Mädchen ihr Poesiealbum mit nach Hause gegeben. Da müsste dann aber der Jank etwas hineinmalen und er könnte damit angeben.
Am Nachmittag saß sein Bruder ihm bei den Hausaufgaben am Tisch gegenüber und tat geheimnisvoll. Als Sichtschutz diente ihm ein aufgeklapptes Lesebuch. Seine geschickte Zeichenhand hatte eine fette Neun in das Rechenheft gemalt. Die war allein schon so groß wie eine ganze Seite. Gerade war er dabei, sie mit Rotstift einzufärben. Danach schnitt er sie aus und legte sie auf weißes Papier. Die roten Ränder verwischte er auf auf das untergelegte Blatt.
***
Da gab es ein geheimnisvolles Band zwischen Jank und Mill.
Vom Alter her standen sie sich zwar am nächsten, waren aber grundverschieden. Jank, nach innen gekehrt, die Welt um sich als Forscher beobachtend, gestaltete alles – von der Schleuder bis zur Schönschrift – sorgsam, fehlerlos, ideenreich. Sein kleiner Bruder, auf Anerkennung aus, war mit zwei linken Händen ausgestattet. An allem, was er beobachtet und erlebt hatte, sollten andere unbedingt teilhaben. Aber trotz ihrer Verschiedenartigkeit gingen sie nicht, wie man es hätte erwarten können, ihrer Wege, sondern hatten ihre ganz besondere Art brüderlicher Vertrautheit. Hedwig versuchte, sich das mit einem Ereignis zu erklären, an das sich beide Brüder nicht mehr erinnern konnten.
Beim Spielen im Garten der Sedanstraße war ihr damals zweijähriger Joachim kopfüber in das halbhoch eingegrabene Regenfass gerutscht. Nur noch seine Beine mit den neuen schwarzen Schnallenschuhen hatten aus dem Wasser herausgeragt. Wolfgang konnte ihn in letzter Sekunde an den Beinen packen und über die Fasskante wieder hochziehen. Nachdem sich Joachim den Erstickungsschluck herausgehustet hatte, drang sein Gebrüll an ihr Ohr. Sie hatte damals das Fenster aufgerissen. Irgendeinen Streit glaubte sie, schlichten zu müssen. Ein aufgeschlagenes Knie oder eine Kopfbeule sollte sie bepusten. Aber erst durch den Herrn Filusch aus dem Nachbarhaus erfuhr sie, dass ihr Wolfgang seinem kleinen Bruder das Leben gerettet hatte.
***
Mill tat so, als habe er nichts von dem gerade entstehenden Kunstwerk bemerkt. Als seine Nase dann auch noch mitbekam, dass ein Kuchen im Herd war, da wusste er, dass es trotz aller heimlichen Fluchtvorbereitungen ein richtiger Geburtstag werden würde.
Der Rolf hatte seinem Vater wieder heimlich Boskopäpfel aus dem Obstkeller geklaut, stand als Gratulant mit prall ausgebeulter Jacke und Hose in der Stube. Die große Neun in Janks Wischtechnik bekam einen Platz neben der Tür. Oktobersonne schien durch den Gardinenrest in die Stube und malte Ornamente des Gitternetzes auf die Geburtstagszahl.
Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.
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