Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 86
Auf dem Acker stehn die Bogenschützen
Jank nahm acht Regenschirmstreben und umwickelte das Bündel oben, unten und in der Mitte mit dünnem Draht. Nur ein Stück seiner besten Schnur war es wert, als sorgsam verknotete Sehne die Schnellkraft dieser neuen Waffe auf einen Schilfrohrpfeil zu übertragen. Beim Anzupfen ließ die straffe Schnur einen bösartig schnarrenden und bedrohlich klingenden Ton hören.
Sein Freund Rolf hatte ihm einmal ein Stück echtes Bienenwachs geschenkt. Diese gelblichgraue Kugel war von da an Dauergast in allen seinen Jacken und Hosen. Ausgiebig ließ er seine Bogensehne durch das Wachs gleiten, bis die Kugel eine tiefe Rille zeigte.
Sie wussten es selbst nicht, warum sie diesen Stahlbogen nicht gleich auf dem Brachfeld hinter dem Lettauhof ausprobierten. Schweigend gingen sie den viel weiteren Weg bis zu ihrem Acker.
Der lag, wie immer um diese Jahreszeit, abgeerntet und öde neben dem leeren Schmalspurgleis. Sonst standen die beiden Loren der kleinen Bahn entweder irgendwo auf der klapprigen Schiene oder jemand hatte sie in den Graben gekippt. Heute fiel ihnen nicht einmal auf, dass sie verschwunden waren.
Hans hatte Roggen und Kartoffeln an den alten Lettau verkaufen können. Der Schweigsame wusste auch den Grund, weshalb seine Flüchtlinge in diesem Herbst keine Kartoffelmiete mehr gegraben hatten. Kartoffelkraut lag in zwei großen Haufen. Inzwischen war es durch den Regen matschig und seifig geworden. Ihr alljährliches Ackerfeuer, in dessen Glutasche die Ackersegenknollen zu leckeren, schwarzen Klumpen garten – dieses Mal würde es das nicht mehr geben. In diesem Oktober würden von ihrem Acker aus nicht mehr die würzig duftenden, blauen Rauchschwaden über die Landschaft streifen.
Sie waren am Gartenteil ihres Feldes angekommen. An den Bohnenstangen und Schnüren hingen verdorrte Rankenreste. Ein paar vergessene Zwiebeln ragten, inzwischen schulterhoch aufgeschossen, mit prächtigen Samenständen empor.
Jank nahm den Bogen von der Schulter und zupfte noch einmal den drohenden Schnarrton aus der Sehne hervor. Unaufgefordert reichte ihm sein Bruder einen der fünf Schilfrohrpfeile. Der Bogenschütze legte die Pfeilkerbe fast andächtig an die Sehne und zog bis zur Pfeilspitze aus. Eine solche Gegenkraft hatte er bei seinen bisherigen Haselnussbogen noch nicht erlebt.
Der Pfeil schnellte von der Schnur, schmolz zu einem Punkt zusammen und verflüchtigte sich dann am diesigen Himmel. Stumm ging Jank in Schussrichtung zurück. Mill lief nebenher, plapperte sich dabei in helle Begeisterung über den Bogen. Den gesamten Acker hatte der Pfeil überflogen und lag auf der anderen Seite des Schmalspurgleises. Dort im Graben, wo sonst immer die Loren hineingekippt wurden, genau da hatte ihn ein Dornbusch aufgefangen. Einen zweiten Schuss wollte Jank nicht mehr wagen, denn die Sehne hatte ihm die empfindliche Haut seines Unterarms so böse gepeitscht, dass ihm vor Schmerzen eine verstohlene Träne kam. Den Pulloverärmel schob er aber erst heimlich nach dem Abendessen hoch, um sich den dunkelroten Fleck anzuschauen.
Beide hatten ihren Acker ein letztes Mal betreten. Das war keinem in diesem Augenblick bewusst. Vielleicht hätten sie sich sonst noch einmal kurz vor der Gleisbiegung umgedreht. Dort, wo damals der Verbandsplatz für die tapferen Kriegsheimkehrer im Luzernefeld war, wäre es noch einmal möglich gewesen. Sie aber balancierten nur, wie gewohnt, auf ihrem wackligen und verbogenen Gleis in Richtung des Dorfes.
Jank wusste, dass er seinen Stahlbogen nicht in den Westen mitnehmen konnte. Aber dort würde er sich einen neuen bauen.
Einen, der seinen Pfeil noch weiter trägt.
Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.
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