Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 85

Im Oktober kommt der Osterhase

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Die Stube war schon fast entkernt. Nur das Lebensnotwendigste hatte sie noch da. Kochtopf, Pfanne, Besteck.

Ihre Gardine hing als Tarnung gegen neugierige Blicke. Auf die beiden Lettaus konnte sie sich jedenfalls verlassen. Der Bauer selbst sprach sowieso mit kaum einem aus dem Ort. Adelheid war seit der Sache mit dem Herrn Bachnitz zu einer Vertrauten geworden. Hedwig war inzwischen auch klar geworden, welche Zumutung das für die Bauern gewesen sein musste, jahrelang fünf wildfremde Leute bei sich einquartiert zu haben. Dazu auch noch Stadtmenschen,.

Adelheid selbst stand ja wegen dem Herrn Bachnitz auch schon in den Startlöchern nach West-Berlin.

„Adelheid, Sie fahrn am Wochenende mal zu ihrm Bräutigam und überraschn ihn. Die zwei Tage bin ich mal Adelheid Lettau. Das schaff ich schon. Und sie probiern mal aus, wie es is, eine Frau Lehrer zu sein.“

Hedwig lachte und nickte der jungen Bäuerin zu.

„Mein se würklich? Dett kann ick doch nich annehm, Frau Thorandt.“

Frau Bachnitz in spe protestierte mit nachlassendem Widerstand.

Hedwig schmiss den Laden und wurde von ihren beiden Jüngsten bestaunt, wie sie auf dem einbeinigen Melkschemel von Euter zu Euter wanderte. Sogar der alte Lettau sprach in der Zeit mal ein paar Worte mit ihr.

Am späten Sonntagnachmittag kam Adelheid Lettau selig von ihrem Berliner Lehrer zurück. Die Frauen hatten viel zu besprechen.

***

Zur gleichen Zeit kam Jank mit seinem Bruder gerade etwas entmutigt und mürrisch vom Drachensteigen. Das schwere Packpapier, die dicke Pampe des Mehlkleisters und die Speichen von dem kaputten Herrenschirm waren Schuld daran, dass ihr Fluggerät sich im Oktoberwind nur träge über den Stoppelacker erheben konnte. Und auch das gelang nur, wenn man sich mit der Schnur in der Hand gegen den Wind die Lunge aus dem Hals rannte.

Mill beobachtete, wie Adelheid seine Mutter an einem Fläschchen riechen ließ. Es hatte ein grünes Etikett mit goldener Schrift und einen goldenem Verschluss. Die Frauen träufelten sich etwas von dem Inhalt auf ihre Finger. Dann rieben sie es sich hinter ihre Ohren. Ein frischer Duft schwebte in der Stube.

***

Damals in der Sedanstraße, da hatte er einmal heimlich die Lederhandtasche seiner Mutter aufgeklappt. Er war dabei eigentlich bloß auf der Suche nach so einem kleinen, runden Handspiegel, weil er andere Kinder vom Küchenfenster aus mit Sonnenstrahlen blenden wollte. Dieses kleine Spitzentuch im Seitenfach ihrer Tasche wurde ihm jetzt wieder gegenwärtig. Das hatte auch so gut gerochen.

***

Hedwig und Adelheid lächelten sich an und beträufelten sich noch einmal.

Als Mill wenig später in die kahle Stube kam, war sein Bruder schon dabei, wieder ein neues Fluggerät zu konstruieren. Eigentlich hatte er es ja schon geahnt, dass der schwere Mehlkleisterdrachen kein großartiger Flieger werden würde. Alles musste jetzt leichter werden. Er erinnerte sich an diese dünnen Holzstäbchen, die er zum letzten Mal in der Waschküche am Fensterbrett gesehen hatte. An Schlachttagen durchbohrten die Bauern mit diesen Dingern die verknoteten Darmenden, damit die Wurst auch dicht bleibt. Mill fand noch eine ganze Handvoll davon. Die Papierschnur aus der Zeit des Krieges wurde durch Mamas Nähzwirn ersetzt. Mill zweigte ein paar Meter davon ab, die auf einen Pappstern gewickelt waren. Er konnte ihn in dem aufklappbaren Nähkasten aufstöbern. Im neuen KONSUM gab es neben gummiartigem Fabrikbrot und einer rot gefärbten Vierfruchtmarmelade jetzt seit neuestem auch wieder pergamentenes Haushaltspapier zum Verschließen von Gurkentöpfen und Marmeladegläsern. Aber außer ein paar Hilfsgriffen hatte Mill nichts zur Entstehung des neuen Drachens beitragen können. UHU gab es im Dorf nur noch in der Erinnerung der Menschen. Also musste Jank auf die Mehlkleisterpampe zurückgreifen.

Vor dem Lettauhof hatte sich inzwischen eine Gruppe von Bauernjungen versammelt. Sie lachten und deuteten auf das Fenster. Mill und Jank hatten heute ihre braunen Osterhasen aus Pappmaché hineingestellt. Mit ihren aufsteckbaren und drehbaren Köpfen schauten sie ganz lebensecht in verschiedene Richtungen.

Der Anführer der Froschmörderbande war auch unter den Fensterglotzern. Er stellte seine Hände als Langohr hoch und äffte die Mümmelbewegungen mit den Stummeln seiner angefaulten Vorderzähne nach.

„Der ist wirklich das doofste Arschloch auf der ganzn Welt.“

Jank sagte es halblaut. Er war froh, dass ihn seine Mutter dabei nicht gehört hatte.

„Dem müsste der Roland mal die Fresse poliern.“

Mill hatte „die Fresse poliern“ vor ein paar Tagen von Größeren aus der achten Klasse gehört. Das gefiel ihm. Das klang lustig und man fühlte sich stark, wenn man so etwas sagte. Aber leider war der mit den angefaulten Vorderzähnen einen halben Kopf größer. Und Roland, das war einer, der schon Muskeln hatte. Aber Roland war seit über einem Jahr in Coburg auf dem Gymnasium. Der lernte Englisch und bei dem hieß Rechnen schon Mathematik.

Eigentlich waren beide doch froh, dass sie die Dorfjungen durch ihre lustigen Oktoberosterhasen zum Reinglotzen gezwungen hatten. Denn jetzt, wo sie bald heimlich nach Coburg verduften sollten, durften sie die beiden Pappfiguren auf keinen Fall mitnehmen.

Sie gingen mit Janks neuer Leichtbaukonstruktion doch lieber durch das Scheunentor nach hinten auf die abgeernteten Äcker. Ungeduldig zerrte der Drachen schon beim Tragen, schoss fast senkrecht bis zur äußersten Schnurlänge hoch und näherte sich mit seinen prasselnden Überschlagschleifen wieder dem Stoppelfeld. Jank musste seine Schnur schnell loslassen, um eine Bruchlandung zu vermeiden. Mills Vorschlag, eine vergessene Kartoffel an den Drachenschweif zu binden, brachte das temperamentvolle Fluggerät schließlich doch noch in eine stabile Lage.

Die beiden kamen dann rotwangig und windzerzaust in die Stube zurück.

Beim Fettbrotkauen eröffnete Hedwig den beiden trocken und so ganz nebenbei:

„Die Osterhasn hab ich schon der Frau Michalski gegebm für ihre beidn Mädls. Die hat sich vielleicht was zerschwärmt.“

Noch einmal machte sie ihnen klar, dass die Pappfiguren in der Tasche sowieso zerdrückt worden wären. Erst vor ein paar Monaten hatte ihnen die Frau Snura diese Osterhasen aus Berlin mitgebracht. Auf dem Nest aus grün gefärbter Holzwolle in ihrem Inneren hatte ihnen damals eine Handvoll bunter Zuckereier entgegengelacht. Jeden Tag gönnten sie sich eines davon, achteten peinlich darauf, dass die lustige Vielfalt der Farben möglichst bis zum Schluss erhalten blieb. Um sich ihren Trennungsschmerz von den Osterhasen selbst zu lindern, erzählten sie der Mutter noch nachträglich die Sache mit diesen bescheuerten Fensterglotzern. Und dass der eine ein Tierquäler sei und dass er auch verfaulte Zähne habe.

Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.