Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 83

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Die Vorhut

Der Fünfzehnjährige stieg vom Zug. Er trug kleines Gepäck, nur den Tornister mit der Rückenklappe aus rotbraunem Fohlenfell. Sein großes Gepäck trug er im Kopf. Es war der Auftrag, den er zu erfüllen hatte.

Die scheppernden Durchsagen aus den verschiedenen Bahnsteiglautsprechern überschlugen sich. Unsicher blickte er sich um. Noch immer baumelten große, drahtdurchzogene Glasteile des ehemaligen Bahnhofsdaches in der zugigen Halle vom kahlen Stahlgerippe der Deckenkonstruktion. Bald konnte er die Unterführung finden, die ihn zum Hauptausgang bringen sollte.

In den letzten vier Jahren hatte das alltägliche Leben wieder schrittweise damit begonnen, sich in die Ruinenwüste zurückzuschleichen. Trümmerberge hatten bei seinem ersten Berlinbesuch noch breite Fahrstraßen in mörtelstaubige Fußpfade verwandelt. Jetzt waren viele davon weggeräumt. Verschüttete Gullis, Kanaldeckel und Hydranten waren zum Vorschein gekommen. Die Ziegelsteine, die noch brauchbar waren, standen nun, vom alten Mörtel sorgsam freigeklopft, in säuberlich gestapelten Säulenblöcken als Baumaterial bereit. Mercedesse, Opellimousinen, Wanderercabrios und Lastwagen fuhren mit den plumpen Tonnen der Holzvergaseröfen auf dem Buckel durch die provisorisch reparierten Straßen. Die Luft war vom unaufhörlichen Dröhnen großer Flugzeuge erfüllt. Die silbrig glänzenden Kolosse mit zwei, manche mit vier Propellern, flogen so tief über den Dächern, dass Hans sogar ihre Piloten winken sah. Deutlich erkannte er den fünfzackigen amerikanischen Stern am Rumpf und auf den Tragflächen.

Am unterirdischen Grollen hörte und spürte er, dass die U-Bahn wieder fuhr und fragte sich bis zum U-Bahnabgang nach Berlin-Charlottenburg durch. Als er nach kurzer Fahrt wieder aus dem tiefen Schacht emporstieg, war es bis zu seinem Ziel Uhlandstraße 14 nicht mehr weit. Er war froh, dass er seine Lederjacke mit den Reißverschlüssen anhatte. In dem Schaufenster einer Fleischerei war zwar außer einem kleinen Schwein aus Gips nichts ausgestellt, dafür konnte er sich ganz betrachten. Die hohen Schuhe mit der praktischen Hakenschnürung und seine langen, schwarzen Überfallhosen passten wirklich zusammen. Er sah nicht aus wie einer vom Dorf, fand er. Bald würde er bei der Frau Snura im ersten Stock angekommen sein und den Griff ihrer schrillen Klingel nach rechts drehen.

Da war es schon, das Schild mit der vertrauten Aufschrift Uhlandstraße. Er blieb noch einmal vor einem Musikgeschäft stehen.Nicht wegen des gebrauchten, roten Akkordeons, sondern um sich im Schaufenster zu kämmen. Ein Griff in die Brusttasche holte sein schwarzes Kammbruchstück hervor. Er zog den Scheitel nach und drückte sich vorne die Andeutung einer leichten Welle. Erst dann schob er die gewichtige Eichentür auf und stieg über die knarrigen Treppen zum ersten Stock hinauf. Mehrmals drehte er an der Klingel, streifte seinen Tornister ab und setzte sich schließlich zum Warten auf eine Stufe.

***

Das Dorf lag hinter ihm. Die unvergleichliche, zauberhafte Christa Lüdeke hatte ihm sogar

In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken

in sein selbstgeklebtes Poesiealbum geschrieben. Sie hatte ihm immer besonders gefallen, weil sie so scheu lächelte. Und nicht gleich, wie viele andere Weiber, bei jedem Dreck albern kicherte. Mit solchen wollte er sowieso nie was zu tun haben.

Eigentlich war er ja froh, dass der alte Lettau nicht auf dem Hof gewesen war, als er zum Zug ging. Er hatte zwar gespürt, dass der Bauer ihn mochte, aber es war doch besser gewesen, diesen verschlossenen Menschen nicht durch einen endgültigen Abschied in Verlegenheit zu bringen. Beide hätten sie sicher bloß irgendeinen Mist gesagt. Schon der Abschied von der Adelheid hatte ihm gereicht. Sie hatte dem Pumpenschwengel einen Stoß gegeben, sich dann die Stallhände unter dem dünnen Strahl sauber und an ihrer Schürze trocken gerieben.

Ihre Augen waren etwas nass und ihr Mund verzog sich nach unten.

Da hatte er schnell seinen Tornister geschultert. So etwas war ihm schon immer peinlich gewesen. Bei Geflenne und solchen Sachen, da war er hilflos.

Hedwig wusste das und hatte ihren Trennungsschmerz versteckt, indem sie den Auftrag an ihn noch einmal wiederholte und ihm Grüße an die Frau Snura einschärfte. Dabei war ihm aufgefallen, dass sie immer noch genauso roch, wie in Oppeln, wo sie ihm den Verband angelegt hatte.

***

Am Oderbruch war damals die beste Schlittenbahn, die auf dem zugefrorenen Strom über spiegelglattem Eis auslief. Sein Bruder Roland und er preschten immer diese waghalsige Piste hinunter. Waghalsig, weil man im unteren Drittel scharf rechts lenken musste. Sonst wäre man unweigerlich im straff gespannten Stacheldraht des Kriegsgefangenenlagers gelandet. Und genauso war es auch gekommen. Trotz Rolands verzweifelter Bremsversuche waren sie mit ihrem Schlitten im Drahtverhau des Gefangenenlagers gelandet.

Am Kinn hatte Hans eine klaffende Wunde. Er staunte, wie schnell sein Blut den neuen Wollfäustling tränkte. Sein älterer Bruder war mit ein paar Rissen in der Hose davongekommen.

Einige Kriegsgefangene standen in Wolldecken gewickelt wie Statuen vor ihren Baracken und schauten, was da draußen in der Freiheit vorgefallen war. Der Maschinengewehrposten auf dem Wachtturm trat an das Beobachtungsfenster, wurde aber schnell wieder unsichtbar.

„Drück fest drauf. Wir gehen erst mal zur Tante Martha und zum Opa. Ich zieh dich.“

Roland versuchte, davon abzulenken, dass er die Schuld hatte.

„Ojejejejeje, was habt ihr da für Tummheitn gemacht! Martha, komm mal mit dem Leukoplaste!“

Tante Marthas großes Pflaster wurde aber auf dem Heimweg in die Sedanstraße schnell durchgeblutet. Die Mutter hatte Hans dann im Liegen einen richtigen Druckverband angelegt. Mit ihrem Mamagesicht war sie ihm dabei ganz nahe gekommen. Dieser Geruch war für ihn der Mamageruch .

***

Als er jetzt so auf der Holztreppe saß, fasste er sich ans Kinn. Die Fingerspitzen betasteten den Rand von wildem Fleisch, der sich in den paar Jahren da gebildet hatte. In den düstersten Farben war ihm damals von allen ausgemalt worden, wie schlimm er eines Tages aussehen werde. Dringend hatten sie ihm dazu geraten, das Kinn von einem Arzt im Krankenhaus fachmännisch nähen zu lassen. Er solle sich doch bloß einmal den Mann mit der Baskenmütze aus der Odervorstadt anschauen. Der habe auch so viel wildes Fleisch im Gesicht, mindestens ein halbes Pfund, und deshalb schaue ihn keine Frau an.

Aber die Vorstellung, dass da jemand mit einer Nähnadel an seinem Gesicht herumfuhrwerkt, versöhnte ihn mit dem bisschen wilden Fleisch. Außerdem war er inzwischen schon oft danach gefragt worden und hatte so mit seinem bisschen Narbenfleisch immer eine interessante Geschichte auf Lager.

***

Unten auf der Uhlandstraße knatterte gerade laut ein zweitaktiges TEMPO-Dreirad vorbei. Jemand musste die Haustür kurz aufgestoßen haben. Und da stapften auch schon langsame und schwere Schritte die Holztreppe hoch. Hans ließ den Tornister liegen und ging den Schritten entgegen.

Frau Snura. Fast hätte er sie nicht erkannt, denn mit Hut hatte er sie noch nie gesehen.

„Na, das is die Erziehung von der Hedwig.“

Sie seufzte erleichtert, als er ihr beide Einkaufsnetze abnahm. Erst bei einer großen Tasse Apfelschalentee fiel ihm das gerahmte Foto eines Soldaten in Uniform im Wohnzimmer auf. Es hatte ein Trauerband. Wie der gefallene Ritterkreuzträger in Rolands Oppelner Sammlung. Hans traute sich nicht zu fragen.

Frau Snura zeigte ihm die glänzenden Münzen des neuen Westgelds.

„Die Autobahn hat der Russe auch seit dem Sommer gesperrt und in den Zügen kontrollieren die Schweine von Sowjets.“

Herrmann, Frau Snuras Ältester, mischte sich aus einem Nebenzimmer in das Gespräch ein.

„Aber der Ami lässt sich das nicht bieten. Der versorgt uns mit der DC 3. Morgen fahr ich mit dir mal nach Tempelhof. Das hast du noch nicht gesehn. Die landen und starten da jede Minute.“

Er schaltete den Volksempfänger ein und wartete. Nach kurzer Aufheizzeit meldete sich eine Männerstimme, die unverkennbar Nachrichten sprach. Frau Snuras Ältester lauschte angestrengt und drehte das Radio etwas lauter. An seinem leichten Nicken sah Hans, dass Herrmann alles verstand, was da in Englisch aus dem Lautsprecher kam.

„Mutti, jetzt fliegt der Engländer ohch. Ich hab dir doch gesagt, dett der Westen uns nich im Stich lässt!“

Sie war inzwischen dabei, den Inhalt ihrer Einkaufstaschen in die Regale der Speisekammer einzuordnen. Frau Snura war zwar über die gute Nachricht erfreut, ärgerte sich aber darüber, dass sich immer mehr Berliner Vokabeln in die Sprache ihrer Söhne einschlichen. Herrmanns jüngerer Bruder Siegfried war am späten Nachmittag mit seiner Klasse vom Wannsee zurückgekommen. Er hatte dort an einem DEMOCRACY CAMP teilgenommen und war noch ganz begeistert, vor allem von der Verpflegung. In großen Hauszelten wären sie da auf faltbaren Soldatenbetten untergebracht gewesen. In den Zelten hätten sie sogar stehen können. Außerdem hatten sie schon irgendein Komitee gewählt und auch gelernt, wie man richtig diskutiert.

Am Abend hörten die beiden Snurasöhne dann ein Jazzkonzert über einen Soldatensender, beschnalzten und benickten den Rhythmus. Zur gleichen Zeit saß Hans mit seiner Gastgeberin in der Küche. Wenn sie von seiner Mutter sprach, sagte sie einfach Hedwig. Hans fühlte sich dadurch immer mehr als Komplize und Mitverschwörer seiner Mutter. Er sollte ungefähr einen Monat lang bei den Snuras wohnen. Alle Päckchen und Pakete mit den Habseligkeiten, die ab jetzt aus Drahnsdorf hierher geschickt würden, müsse er an die Coburger Adresse umadressieren und an einem Postamt aufgeben.

Am Wochenende fuhren die drei jungen Kerle zum Flughafen hinaus. Die DC 3 Silbervögel schwebten mit brüllenden Motoren und weit ausgefahrenen Landeklappen im Minutentakt ein, rollten aus und blieben dann mit zuckenden Propellern stehen.

Ladearbeiter in olivgrünen Overalls standen schon bereit und leerten die prall gefüllten Flugzeugbäuche. Säcke, Kisten, Pakete und Metallfässer wurden mit routinierten Griffen gestapelt und zum Teil gleich auf Lastwagen verladen, die darauf mit rußigen Auspuffschwaden in Richtung Stadt donnerten.

Die beiden Snuras sprachen von Airport und Airforce. Im Stillen wurmte ihn die großsprecherische Art der beiden. Auch er hatte auf dem Gymnasium Englisch angefangen. Auch er hatte damals in der Heimat ein Englischbuch und ein Vokabelheft. Die Flucht und die Jahre auf dem Dorf hatten ihm alles verschissen. Er hätte ihnen erklären können, wie man ein Gespann führt, wann Roggen ausgesät wird, wie man eine Kartoffelmiete anlegt. Diese Stadtheinis würden sich für so etwas sowieso nicht interessieren, ihn wahrscheinlich bloß auslachen.

Andererseits merkte er, dass er den Anschluss verpassen würde, wenn er in Drahnsdorf mit seinen dreihundert Einwohnern leben müsste. Aber hier in diesem Berlin wollte er auf keinen Fall bleiben. Coburg sei ja Gottseidank auch in der amerikanischen Zone, hatte der Roland geschrieben. Und sogar einen amerikanischen Militärflugplatz hätten sie ganz nahe bei der Burg.

Aber wie sie trotz der Straßenblockade und trotz der Personenkontrollen in den Westen kommen könnten, das wollte die Frau Snura mit ihm noch einmal zu einem späteren Zeitpunkt besprechen.

Sie müsse sich erst noch Informationen einholen. Es gehe da um eine bestimmte Adresse und über den Preis müsse sie mit einer gewissen Person auch erst noch verhandeln. Diese Geheimnistuerei machte ihm klar, dass die ganze Sache kein Spaziergang werden würde.

Das erste Paket aus Drahnsdorf kam in der Uhlandstraße an. Hans schätzte, dass es ein Federbett mit Kopfkissen sein könnte. Es war in braunes Packpapier gewickelt und mit Papierschnur zusammengezurrt. Sofort erkannte er Mamas Spezialknoten. Nichts wackelte oder klapperte da. Seltsam, wie ihm diese Knoten mit ihren festen Schlaufen selbst hier in der fremden Millionenstadt ein warmes Gefühl gaben.

Nachmittags ging er mit dem umadressierten Paket zum nächsten Postamt. Frau Snura hatte ihm Westgeld mitgegeben. Er stieg die paar Stufen zum Eingang hoch. Er fühlte, wie ihm seine Hände feucht wurden. Als er in der Schalterhalle stand, erwartete er in jedem Augenblick, man könnte es ihm ansehen, dass er aus der Ostzone kommt und dass er etwas Verbotenes tut.

Plötzlich fielen Verschweigezwang und Versteckangst von ihm ab. Was er hier tat, das war doch etwas ganz Normales. Ein Paket von West-Berlin in den Westen schicken, na und? Erleichtert trabte er die Treppen zur Straße hinunter. Der Herrmann Snura hatte es ihm einmal ganz treffend gesagt, als sie über ihre Pläne sprachen.

„Du bist praktisch die Vorhut für deine Familie.“

Was eine Vorhut ist, das wusste er noch von den Geländespielen aus seiner Zeit bei der Hitlerjugend. Wenn er dann die beiden Snurajungs sah, wie sie sich gegenseitig ihre neuen Englischvokabeln abfragten, mathematische Formeln aufschrieben und mit Rotstift umrandeten oder einfach nur in Büchern lasen, dann kamen ihm die Wartetage auf Hedwigs Pakete unerträglich lang vor.

Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.