Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 82
Das Beinleiden mit dem schwarzen Tuch
Frau Haller erkannte die Handschrift auf dem Briefumschlag, ohne noch lange überlegen zu müssen. Es war eine Anfrage dieses älteren Herrn aus Golßen, der sich mit dem Fotografieren von Schulklassen durchschlug. Dass er vorhabe, am nächsten Sonnabend zu kommen, dass jedes Jahr immer neue Schüler in der achten Abschlussklasse seien und mancher von ihnen sicher froh wäre, von seinem letzten Schuljahr eine schöne Fotografie als Andenken für sein späteres Leben zu haben. Auch Fotografien von einzelnen Schülern oder kleinen Gruppen seien seine Spezialität. Wegen seines Beinleidens solle sie doch bitte zwei wirklich zuverlässige und auch kräftige Achtklässler zum Tragen von Stativ und Kamera an den 10-Uhr-Zug schicken.
***
Die Wagons waren ruckartig zum Stehen gekommen. Ein grauhaariger Mann hangelte sich vorsichtig an den Haltegriffen über die Eisengitterstufen auf den leeren Bahnsteig herab. Sein gewichtiges Fotostativ lehnte noch oben auf der Wagonplattform. Flink sprang einer der beiden Achtklässler auf und stand im Nu wieder damit auf dem Boden. In der Zwischenzeit hatte der andere schon brav seinen eingetrichterten Satz heruntergesagt.
„Frau Lehrerin Haller schickt uns zum Tragen.“
Nur zögernd übergab der Fotograf seine Kamera dem anderen Jungen, wobei er ihn noch zur besonderen Vorsicht mahnte, da dies eine echte alte Agfa sei. Der schwere Apparat steckte in einer selbst genähten Hülle aus tarnfarbenem Zelttuch.
Jetzt sahen die beiden Helfer auch, dass der Fotograf ein steifes Bein hatte. Er griff sich den Gehstock, der über dem zusammengeklappten Stativ hing und ging mit den Jungen mühsam über die Gleise in Richtung der Schule. Da er ihre verstohlenen Blicke auf sein Knie spürte, knurrte er noch:
„Der verdammte Engländer hat mir 18 einen Heimatschuss ins Knie verpasst.“
Darauf trugen die Jungen ihre fotografischen Lasten noch andächtiger und versuchten, ihr sonst zügiges Tempo dem mühseligen Gang des alten Mannes anzupassen. Die Schule kam in Sicht. Von weitem erkannten sie, dass Frau Haller mit ihren Klassen schon auf dem Pausenhof wartete. Mädchen flochten aufgeregt das Haar nach und versuchten, ihre kunstseidenen Schleifen zu glätten. Jungen liehen sich gegenseitig ihre Kammbruchstücke aus, um ihrer Frisur noch den letzten Schliff zu geben. Inzwischen hatte es auch Fräulein Gröning aufgegeben, die ewigen Zappelphilipps ihrer Grundschulbande ständig zur Aufmerksamkeit ermahnen zu müssen und sie entließ ihre Mädchen und Jungen in eine vorgezogene zweite Pause.
Mill verdrückte sich in dem lautstarken Durcheinander, rannte die leere Dorfstraße entlang. Unbedingt musste er seinen Hans holen. Er hoffte, dass der nicht mit dem Ochsenwagen auf dem Feld war. Sonst hätte Hans doch den Fotografen unweigerlich verpasst und sie wären dann bloß zu zweit auf dem Bild. Keuchend erreichte er den Lettauhof und stieg dann hastig durch die kleine Einstiegsluke des großen Hoftors. Hans kam gerade aus dem Stall. Eben war er mit dem Einstreuen fertig geworden und wunderte sich, seinen kleinen Bruder jetzt schon mitten in der Unterrichtszeit auf dem Hof zu sehen.
„Der Fotograf is da. Los komm!“
Jetzt erinnerte sich Hans wieder, dass seine Mutter mit Adelheid Lettau vertraulich geredet hatte. Bitterernst hatte sie vor kurzem zu der jungen Bäuerin gesagt:
„Dann hab ich sie wenigstns noch auf eim Foto.“
Er wollte seine Mutter fragen, was sie denn damit meint, aber sie lenkte kurz ab.
„Wenn der Schulfotograf kommt, dann lasst ihr drei euch fotografiern.“
Schon seit über einem Jahr war Hans nun kein Volksschüler mehr. Er hätte sich schrecklich geniert, zusammen mit kleinen Kindern an seiner ehemaligen Schule fotografiert zu werden. Deshalb erlöste ihn Adelheids Zuruf, dass der Fotograf ja auch noch am Nachmittag vor dem Gasthaus stehen wird, um dort für Ausweise und Familienfeste Privatfotos aufzunehmen.
***
Vor dem Lokal warteten Mill und Jank auf diesen denkwürdigen Augenblick. Zwei Stühle waren gerade aus der Wirtschaft geholt worden. Hans ging nervös auf dem Gehweg hin und her. Hedwig sagte, sie sollten lächeln, sobald der Mann unter sein schwarzes Tuch krieche.
Zu diesem Anlass hatte Hans seinen ganzen Stolz, die kurze, braune Lederjacke angezogen. Anderen gegenüber hatte er immer gesagt, es sei sogar eine echte Pilotenjacke der Luftwaffe.
Der Fotograf ließ die Brüder vor dem weiß-grauen Putz der Hauswand neben dem Fenstersims Aufstellung nehmen und bückte sich unter das schwarze Tuch.
Hans hatte sein Haar gescheitelt und vorne mit Wasser modern aus der Stirn gekämmt. Angespannt und ernst blickte er in das Auge des Apparats.
Seine Brüder trugen schon ihre dicken Wintermäntel mit riesengroßen Knöpfen aus Horn und Perlmutt. Während Mill bereitwillig der Lächel-Ermahnung gehorchte, schien Wolfgang diese überhaupt nicht gehört zu haben. Gedankenverloren starrte er ins Objektiv. Das Geplapper und Gekicher der Umherstehenden versank in den Ohren der drei Brüder zu einem wogenden, weit entfernten Stimmengewirr.
Der Fotograf hatte sein zerschossenes Bein beim Bücken unter das schwarze Tuch von sich weggestreckt. Als er mit der Brille auf der Stirn blinzelnd ins grelle Tageslicht hochtauchte, zog er es wieder mit beiden Händen an sich heran.
Erst jetzt verschwand das befohlene Lächeln aus Mills Gesicht, schob Jank seine dünne Haarsträhne aus der Stirn, zog Hans den Reißverschluss seiner rechten Brusttasche ganz zu.
Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.
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