Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 81
Das Zeichen zum Vortreten
Aus Wehrmachtsdecken hatte Hedwig zwei lange Hosen geschneidert. Sie waren schon bei den Anproben kratzig.
„Daran gewöhnt man sich.“
Eventuelle Hoffnungen, die Hosen bloß am Kommunionstag tragen zu müssen, wollte sie gar nicht erst aufkommen lassen.
„Da habter gleich was Ordentliches für das Gymnasium in Coburg.“
Aus einem dunkelblauen Mottenfraß-Herrenparallelo zauberte sie ihnen zwei ärmellose Jungenpullover. Dazu weiße Herrenhemden mit gekürzten Ärmeln, na also! Jank bekam schwarze, hohe Schnürschuhe. Nie hätte er sich diese Dinger angezogen, wenn er gewusst hätte, dass sie die Winterschuhe einer verstorbenen alten Dame aus Berlin waren. Hans war der Einzige, der es wusste, aber der hatte dicht gehalten. Mill ging in Sandalen mit Pappriemen. Das Zeug sah fast wie Leder aus, wenn man es richtig wienerte.
Als sie an sich heruntersahen, kamen sie sich fremd vor. Erst das gespielte Lob von Hedwig und Adelheid glättete ihren Widerwillen, so auf die Straße bis zur Kirche und zurück gehen zu müssen. Im geretteten Familienalbum waren die Beispiele zu sehen, wie man als Junge bei der Erstkommunion auszusehen hat. Roland und Hans im neuen Matrosenanzug der Edelmarke BLEYLE mit ihren spiegelnden, schwarzen Halbschuhen und schneeweißen Kniestrümpfen. Die mussten natürlich außen am Gummibund Quasten haben, dazu noch die dicke Kommunionkerze mit Kelch und Hostie als wächserne Applikation, mit Myrthenkränzchen und papierenem Wachstropfenfänger.
Hätte es hier irgendwo einen Wandspiegel gegeben, sie hätten sich nicht aus dem Haus getraut. Früh gab es dann keine Haferflocken mit Margarine und Sirup, sondern bloß eine große Tasse Brombeerblättertee.
„Ihr müsst ja schließlich nüchtern sein.“
Mamas Kamm, in Wasser getaucht, damit der Scheitel wie mit einem Lineal gezogen wirkte.
***
In der Sedanstraße 34, da hatten sie ein Weihwasserbecken an der Tür gehabt.
„Wolfgang, hast du das Kreuzzeichen gemacht?“
So hatte ihm damals ihre Stimme aus dem Topfgeklapper der Küche nachgerufen. Immer dann, wenn sie das Klinkengeräusch und das Scheppern der Sicherheitskette innen an der Wohnungstür hörte.
Stille.
„Na dann mach mal!“
Mill war für die Weihwasserkesselhöhe zu klein gewesen. Er war der Einzige, der vom Daumen der Mutter ein Weihwasserkreuz auf die Stirn bekam. Noch lange war es zu spüren. Auch nachdem es abgetrocknet war. Die Haut kitzelte und spannte dann immer so an dieser Stelle. Aber nie hätte er sich getraut, mit der Hand drüberzuwischen.
***
Hier im evangelischen Dorf gab es weder Weihwasser noch Weihwasserbecken. Hedwig machte beiden ein Stirnkreuz mit Daumen und Spucke.
Von der Messe selbst bekamen die zwei Kandidaten so gut wie nichts mit. Wie gebannt starrten sie immer nur nach vorne, um bloß das vereinbarte Zeichen zum Vortreten nicht zu verpassen. Wenn der Herr Erzpriester die Hostie über den Kelch hebt und dabei nickt, erst dann war der Moment gekommen.
Es war so weit. Hedwig nahm ihnen die brennenden Kerzen ab.
Sie gingen nebeneinander nach vorne, sperrten brav ihre Münder auf. Mill war froh, dass er auf dem Rückweg zur Kirchenbank die blöde Blonde aus der Generalprobe nicht entdecken konnte. Sie hielten sich im Sitzen ihre Hände vor das Gesicht. Mill glaubte, irgendetwas falsch gemacht haben. Es kam bei ihm kein frommes Gefühl auf. Als er dann doch verbotenerweise durch die Finger linste, sah er, dass sein Bruder die Hände schon vom Gesicht genommen hatte. Nach dem Gottesdienst ging Hedwig zum Erzpriester und schob ihm einen Briefumschlag in die Manteltasche.
Jetzt war alles geschafft. Am liebsten wären sie zum Acker verduftet oder an die Dahme geflüchtet, um dort den Kastenvogel beobachten zu können, wie er gravitätisch durch die feuchten Herbstwiesen schritt.
Aber Hedwig zwang sie erst einmal zum Dienermachen und Dankesagen bei der Frau Bolko. Die hatte feuchte Augen und sagte irgendetwas von Gottes Lohn und Herrgott. Mill hatte dabei ein mieses Gefühl, weil er sie nicht leiden konnte, obwohl sie ihnen doch geholfen hatte.
Als sie im aufkommenden herbstlichen Wind wieder dem Lettauhof zustrebten, drehte sich Hedwig noch einmal kurz um. Die Frau Bolko stand am Fahrrad und wartete wieder auf den Priester.
***
Frau Snura hatte aus Berlin ein Päckchen geschickt. Echtes Mondamin, eine Dose Kakaopulver und eine Tüte mit richtigem Zucker waren da drin. Es gab Sandkuchen. Der Kakao in schweren Tassen hatte eine dicke Milchhaut. Alles aus dem Westen. Erst danach durften sie ihre Verkleidung wieder ausziehen.
***
Die Nacht darauf war Mill im Traum wieder in der Sedanstraße. Wie schon oft hatte er sich zwei Frotteehandtücher an den Ecken mit Sicherheitsnadeln zusammengesteckt. Das war sein Messgewand. Er fuhr mit dem Kopf durch die Lücke, die von den Nadeln gelassen wurde. Vaters großer Schreibtisch war der Altar. In seiner Mitte stand ein Kelch. Es war eine riesige Henkeltasse mit dampfendem Kakao. Er wollte sie hochheben. Sie war so schwer, dass er sie nicht einmal verrücken konnte. Die Frau Bolko zeigte mit dem Finger auf ihn. Er machte eine Kniebeuge, hob als Priester seine beiden Arme, wollte sie totsegnen. Da stand der besoffene Russe aus dem Quartier vor ihm. Der lachte laut aber unhörbar, fuchtelte mit seinem Revolver herum und zielte auf ihn. Die stummen Blitze aus dem Lauf leuchteten wie Taschenlampen auf, flogen ihm durch die erhobenen Hände, taten nicht weh. Er wachte auf.
Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.
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