Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 78
Die grüne Tinte
Der Brief war etwas Besonderes. Noch nie hatten sie grüne Tinte gesehen. Mill schaute sich den leeren Umschlag an. Mit stumm bewegten Lippen las er die ebenmäßige, etwas verschnörkelte Schrift. Hans belustigte sich und schüttelte den Kopf.
„Der kennt nich ma die Handschrift vom Papa.“
Mill begriff erst langsam, dass sein Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und jetzt aus einer fernen Stadt geschrieben hatte, die Coburg heißt.
Warum der Vater grün schreibt, wollte er wissen.
„Das ist der Westn, die ham alles“, belehrte ihn Hans genervt.
„Wenn ich mal im Westn bin, dann schreib ich nur noch mit so grüner Tinte.“
Die Nachricht, dass Papa sie in Drahnsdorf besuchen werde, verstand Mill so: Der besucht uns immer wieder einmal. So wie die Frau Snura. Und fährt dann wieder weg.
***
Zu blass waren die Erinnerungen an seinen Vater und seine Gefühle für ihn geworden. In den entscheidenden Jahren war er nicht da gewesen und bei Fronturlaub hatten ihn die vier Jungen nicht übermäßig interessiert. Das bisschen Fahren im Kindersitz des Fahrrads und das bisschen Kniegehopse hatten in Mill keine tiefen Wurzeln geschlagen.
***
Nach ein paar Tagen sah er seine Mutter mit seinem fremden Vater im Garten umhergehen. Von der kleinen Mama tauchte nur ab und zu ihr Kopf zwischen den Beerensträuchern auf. Der Vater schien mit seinem Oberkörper im Garten zwischen den Beeten zu schweben. Mill wartete, bis seine Mutter ihn am Zaun entdeckt hatte. Sie rief ihn mit einer einladenden Handbewegung zu sich hinüber. Er lief auf dem Mittelweg und bog bei den Bohnenstangen ab.
Der Vater hob ihn hoch. Ein Hauch aus der Sedanstraße 34 umwehte Mill. Aber mit seinen acht Jahren fühlte er sich schon zu groß, um gehoben zu werden. Er hatte schon mal die Hände vor einem besoffenen Russen gehoben, einem toten Mann ins Gesicht geblickt, Tabak geraucht, die Därme vom Siggi gesehen, die Mama beschützt und die Loren einer Schmalspurbahn geschoben.
„Lass dich mal ankucken. Is der groß gewordn.“
„Papa, ich zeig dir mal die Stelle in der Scheune, wo ich immer die Eier hol.“
Er wurde auf später vertröstet. Zuerst habe der Vater noch etwas mit der Mama zu besprechen.
Auch das Kabel, wo man einen Stromschlag bekommen konnte, wollte er ihm unbedingt noch zeigen. Er durfte wieder gehen.
Zur Zeit lebe Rudolf noch in einem Flüchtlingslager. Im katholischen Männerverein CONSTANTIA sei er aktives Mitglied und habe es wegen seiner schönen Handschrift zum Schriftführer gebracht.
Hedwig kam sich dabei in ihrer kleinen Dorfwelt mickrig und rückständig vor.
***
Noch bevor sein Vater am Drahnsdorfer Bahnhof angekommen war, hatte Hans den Ochsen an den kleineren Erntewagen gespannt. Am Acker begann er damit, die langen Furchen für die Saatkartoffeln zu ziehen. Er staunte, mit welcher Kraft das Tier den Pflug durch die Erde zog. Es war der Ochse, der damals von der tödlichen Krankheit verschont worden war. Fast die Hälfte hatten sie schon geschafft. Er hörte nur den Atem seines Zugtiers und das leise Prasseln der umgeworfenen Schollen.
Die vertraute Stimme der Mutter ließ ihn stocken. Er zog die Zügel an. Das hohe Hahans war vom Feldrand her gekommen. Er drehte sich um. Sie stand auf dem Feldweg.
„Hahans, kohomm! Der Papa ist da!“
Sein Vater stand neben ihr und winkte auch etwas. Hans winkte verhalten zum Feldweg hinüber.
<Was will denn der hier? Ich bin doch jetzt der Ernährer der Familie.>
Er drehte sich wieder dem Pflug zu, griff nach dem Lederzügel und gab dem Ochsen sein Zeichen. Zuerst hatte er noch einen Rest von schlechtem Gewissen. Am Ende der langen Furche wendete er den Pflug. Da sah er, dass die Eltern schon auf dem Rückweg waren. Eine Ahnung von Freiheit und Kraft stieg in ihm auf, die ihn bis zur letzten Furche begleitete.
Als er dann den Ochsenwagen wieder in den Hof hineinkutschierte, spannte er bewusst erst einmal ab, pumpte dem Tier noch einen Wassereimer. Dann hängte er Kummet und Geschirr an seinen Platz.
Obwohl sein Vater ihn beim Einfahren gesehen und gehört haben musste, war er nicht im Hof erschienen. Als Hans dann in die Stube kam, erkannte er sofort den Flunsch der miesen Laune in seinem Gesicht. Die tief gebogenen Mundwinkel zeigten, dass dicke Luft war. Nach einer lappigen Umarmung kamen gleich die Vorwürfe. Warum er nicht sofort vom Feld gekommen sei und so begrüße man seinen Vater nicht.
Hans wünschte sich seinen Vater weg.
Warum Hedwig nicht sein Briefmarkenalbum gerettet habe. Seine kompletten Sätze aus den deutschen Kolonien wären jetzt ein Vermögen wert. Auch die handgeschnitzte Papstfigur Pius des XII. aus oberschlesischer Fettkohle habe sie leider nicht mitgenommen. So etwas musste sie sich sagen lassen.
Immer wieder hatte sie sich das Wiedersehen nach langen Jahren der Trennung ausgemalt und herbeigesehnt. Alle ihre vier Jungen durchgebracht, sich selbst geistesgegenwärtig, mutig und entschlossen vor der widerlichen, aber allgegenwärtigen Vergewaltigung bewahren können.
Vollgerotzte Uniformen der Russen mit ihrer Wurzelbürste scheuern, bei der SS-Frau den Aufhängestrick durchschneiden, eine Unterleibsoperation überstehen, Ställe ausmisten, einen Acker bestellen und sogar betteln gehen – das war ihr Fronteinsatz gewesen.
***
Nach drei Tagen brachte sie ihren Mann wieder zum Bahnhof. Mill hatte ihm das gefährliche Stromschlagkabel von der Dreschmaschine nicht zeigen können. Auch die geheimen Stellen, an der die Eier von der verrückten Henne zu finden waren, hatten ihn nicht interessiert.
Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.
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