Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 60

Der Junge verkommt mir hier

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Ein Brief aus Bayern lag auf der Türschwelle.

Die Tante Martha teilte ihrer Schwägerin Hedwig mit, dass sie es nach Coburg verschlagen habe. Hedwigs Mann in belgischer Kriegsgefangenschaft. Roland solle nach Coburg kommen und dort das Gymnasium besuchen. Im Flüchtlingslager könne er auf einem Strohsack schlafen.

Hedwig war froh. Endlich Post. Es wurmte sie aber, dass die Schwägerin eher erfahren hatte, wo ihr Mann Rudolf steckte. Ausgerechnet diese zänkische und missgünstige Martha. Die hatte ihr doch schon kurz nach der Hochzeit eine üble Eifersuchtsszene gemacht. Und nur, weil sie dieser Hedwig ihren Bruder nicht gönnte.

„Du hast mir meinen Bruder gestohlen!“
Alte Szenen tauchten in ihrer Erinnerung wieder ganz frisch auf.
Diese kreischende, sich überschlagende Stimme klang immer noch in Hedwigs Ohren nach. Rudolf hatte sich damals noch nicht einmal eindeutig auf die Seite seiner jungen Frau gestellt, weil er „seine Ruhe“ haben wollte. Und jetzt wollte sie ihre Nase wieder in Hedwigs Familienangelegenheiten stecken.

Aber Schwamm drüber, schließlich habe ich mit ihrem Bruder vier Kinder. Vier Totgeburten habe ich auch durchgestanden. Bei der letzten bin ich beinahe draufgegangen. Wegen dem Leichengift habe ich fast ins Gras beißen müssen. Das zählt. Genau genommen hat die Martha mit dem Roland ja Recht. Der wird mir hier noch verkommen. Nichts wie finstere Schiebergeschäfte, ewiges Herumlungern, Zigaretten, Diebstahl und niederträchtige Gesellschaft.

„Sage mir, mit wem du gehst, und ich sage dir, wer du bist.“

Wie oft hatte sie ihm das vorgehalten.

***

Roland stand in kurzen Hosen, Wollsocken, Pappledersandalen, ärmellosem Pullover und mit braver Umhängetasche am Bahnhof. Das hatte die Frau Snura empfohlen. So sollte man sich als Kurzbesucher tarnen. In dieser Verkleidung fühlte sich Roland überhaupt nicht wohl. Ausgerechnet er, bei dem der Achselschweiß schon scharf roch, wie bei Männern, der schon Schwerarbeiterzulage erhalten und mit Schiebern und Russkis gehandelt hatte, er sollte aussehen, wie ein kleiner Pimpf? Seine langen Hosen wollte er anziehen. Die, bei denen ihm die Mama Stoffkeile hatte einsetzen müssen, damit sie unten ausgestellt waren. Halt so, wie sie die Matrosen trugen. So sei es im Westen modern, behauptete er. Der Westen, das war alles, was er nicht hatte, was er nicht war aber gern sein wollte.

„Der Westn wird mich ja auslachn, wenn ich so ankomm.“

Aber Frau Snura setzte sich durch. Schließlich wusste sie, was „in der Hölle kocht“.

„Und wenn uns einer fragt, wo der Roland steckt?“
Hans wollte das zu seiner Absicherung wissen.

„Dann sagt ihr, dass er in Berlin bei Verwandtn is. Berlin is groß. Berlin is immer gut.“

***

Adelheid Lettau legte eine Postkarte auf den Tisch.

„Er is anjekomm. Ick konnte mir nich beherrschn. Ick hab die Westmarke jesehn und da konntick mir nich beherrschn.“

Hedwig hatte Adelheid Lettau als Einzige ins Vertrauen gezogen. Das ganz große Paket sei angekommen und gleich angemeldet worden, hieß es da ein wenig verschlüsselt. Sie atmete auf. Jetzt war ihr Ältester endlich wieder auf einem Gymnasium. Da gab es statt Herumlungern Mathematik und statt Schieberei gab es Englisch. Jetzt müsste er doch auf andere Gedanken kommen.