Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 53

Aluminium

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Frau Snura hatte aus Berlin geschrieben und sich für Montag zum Besuch angekündigt. Mill und Jank liefen schon eine Stunde eher mit ihrem Handwagen los. Mill saß darin, lenkte mit ausgestreckten Beinen die Deichsel, hielt sich mit beiden Armen an den Holmen fest. Sein Bruder schob das stabile, kleine Gefährt über das Pflaster. Ein volles Jahr war nun schon vergangen und immer noch war die Straße von den Panzerketten im letzten April zerschrundet.

Auf der Bahnüberführung versuchten sie, mit Spucke eine Schiene von oben zu treffen. Danach schifften beide durch das rostige Drahtgitter auf die Gleise und rollten dann die abschüssige Straße zum Bahnhof hinunter. Der lag da, wie ausgestorben.

In den Ziegelsteinabort waren sie noch nie hineingegangen. Ein schwarz-weißes Blechschild daran verkündete gebieterisch das Wort MÄNNER.

„Da wollt ich schon mal reinkuckn, aber das stinkt nach alter Scheiße. Schlimmer, als in der Schule.“

Mill zog seinen Ekelflunsch. Zugleich malte Jank sich aus, was für ein gutes Ziel das Abortschild für seine Schleuder abgeben würde. Inzwischen hatte er sich auf die Schiene gelegt und er meinte, den nahenden Zug schon hören zu können. Nachdem er still bis hundert gezählt hatte, erschien die Lokomotive zuerst noch als stummer, schwarzer Punkt. Erst, als sie dann mit schwerem Atmen, Zischen und schrillem Quietschen ausgerollt war, erinnerten sich beide an ihren Auftrag.

„Da hintn isse glaub ich.“

Eine Frau mit schwarzem Kopftuch winkte ihnen zu. Zwei Koffer und zwei große, eckige Dinger. Die waren mit einer Unmenge von Zeitungspapier eingepackt und umschnürt. Dazwischen schaute Holzwolle hervor. Die Koffer waren leer und schnell auf dem Handwagen verstaut. Oben drauf legte Frau Snura dann noch die beiden geheimnisvoll eingewickelten Dinger.

***

Das flennige Begrüßen und Umarmen konnten die beiden Handwagenzieher kaum abwarten. Endlich kam der Befehl zum Auspacken. Zwei hölzerne Kinderroller mit Aluminiumrädern waren dann im Nu aus der Umwickelung geschält. Mill strahlte, weil die Roller gleich groß waren.

Jank war gleich mit dem Ölkännchen aus Adelheids Fahrradtasche zur Stelle. Nach kurzer Probefahrt auf der gepflasterten Dorfstraße und dem sandigen Gehweg merkten die Brüder, dass die asphaltierte Allee nach Krossen der geeignetere Einsatzort ihrer Roller wäre.

„Habter euch überhaupt schon bedankt bei der Frau Snura?“

Sie hatten es nicht. Vielmehr hatten sie sich schon auf den Weg zu ihrer glatten Traumstraße gemacht und schoben ihre fabrikneuen Fahrzeuge, noch ohne sie zu belasten, über den sandigen Gehweg. Jank legte sich seinen Roller über die Schultern und trug ihn, wie ein Wasserträger sein Tragejoch hält.

Endlich ließ sie die Glattstraße nach Krossen dahinschweben. Sie befuhren den knappen Meter in der Mitte. Ihn hatten die Stahlketten der Kampfpanzer noch unzerfleischt gelassen. Bis hin zur Brücke über die Dahme trug sie der rollende Rausch. Dorfkinder mit den Fahrrädern ihrer Höfe taten es ihnen nach, indem sie sich auf ein Pedal stellten und auch nebenher rollerten.

***

„Die zwei sind mir hier schon richtich verwildert. Man muss sich ja direkt scheem, wenn die sich nichma mehr bedankn könn.“
„Nimmder das nich so zu Herzn, Hedl. Die Jungs sind halt a bissl wilde. Lassock die Kerle sich erst amal richtich austoubm“, versuchte Frau Snura sie zu besänftigen.

Hedwig aber war klar, dass ab heute endgültig andere Saiten aufgezogen werden mussten. Adelheid Lettau konnte dazu auch gleich etwas wirklich Handfestes beisteuern. Nach einigen Minuten des Suchens kam sie mit der gefürchteten „siebenschwänzigen Katze“ ins Zimmer und überreichte sie der entnervten und blamierten Mutter. Dieses Züchtigungsinstrument war ein fünfzig Zentimeter langer Eichenstock mit sieben vierkantigen Lederschnüren. Jede einzelne endete in einem bedrohlichen Doppelknoten.

„Ick hab ja sowatt nich jebraucht. Aba meine zwee Brüda, die ham von Vattan schon mal Senge jekricht, wenn sett jebraucht ham. Hintaher hatta jeweent, aba dazu issa in Stall zu seine Ochsn jejangn.“

Adelheid war wieder zu ihrer Stallarbeit gegangen. Hedwig legte erst einmal dieses Furcht erregende Stück zur Abschreckung so auf den Küchenschrank, dass die Lederriemen mit den bedrohlichen Knoten sichtbar von oben herabhingen.

***

Während die beiden Frauen jetzt gemeinsam einen Rührkuchen zubereiteten, erzählte Frau Snura, dass sich in Berlin jetzt schon einiges geändert hatte. Zigtausende von deutschen Soldaten wären bei der Verteidigung in und um Berlin ums Leben gekommen. Jugendliche verdienten sich ein paar Mark und durchsuchten Keller, Bunker, alte Geschützstellungen und alle ehemaligen Schützengräben nach den Kochgeschirren der toten Soldaten. Ein paar Firmen in Berlin schmelzen das ganze Aluminium ein. Daraus gießen sie schon wieder die verschiedensten Gebrauchsgegenstände wie Töpfe, Pfannen oder sogar Räder für Kinderroller.

Hedwig sah, dass ihr Teig beim Rühren jetzt schon langsam blasig wurde und füllte damit die dunkelbraune Blechform.

***

Bald schwebte Kuchenduft in der Stube. Mill und Jank kamen windzerzaust von ihrer Sahnestraße zurück. Zwar sagte keiner danke, aber sie erzählten beide so begeistert von ihren Rennern, dass eine Ermahnung oder Drohung die ganze Freude kaputtgemacht hätte. Deshalb brauchte die siebenschwänzige Katze aus ihrem langjährigen Schlaf noch nicht aufgeweckt zu werden.