Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 51
Rotlauf
Hedwig kaufte von einem Bauern ein Ziegenmädchen. Es war weiß wie der Schnee, machte die verrücktesten Sprünge, ließ sich aber an einem Strick leicht führen wie ein Hund. Außerdem hatte es ein herzzerreißendes Rufen.
Es sollte eine Flüchtlingskuh werden und die berühmte, fette Milch für die Kinder geben. Sogar auf den entlegenen Acker wurde es mitgenommen und abwechselnd liebevoll getragen. Da konnte es auf einem Brachfeld mit viel Luzerne weiden, wie es wollte. Es war für alle einfach nur „das Zickele“.
Jank kam bedrückt zu seiner Mutter.
„Du Mama, ich glaub, das Zickele hat was. Ich hab ihm eine Mohrrübe gegebm und das hat nichma dran geschnuppert.“
Danach hat es drei Tage nichts mehr gefressen und getrunken.
„Denn kann se eijentlich bloß Rotlauf ham. Da könnta nischt mehr machn. Die muss notjeschlachtet werdn. Unn dett Fleisch müssta zwee Stundn kochn. Sonst isset lehmsjefährlich.“
Hans spürte eine unausgesprochene Erwartung auf sich zukommen. Freilich hatte er sich damals mit dem Ertränken der unrettbaren Kaninchensäuglinge schon gewissermaßen qualifiziert. Doch ein Tier richtig zu schlachten, das war etwas ganz Unvorstellbares. Ein wunderschönes, weißes Ziegenmädchen, das so lebensfrohe Sprünge machen konnte, von allen geliebt, gestreichelt und gefüttert worden war – auf den Kopf schlagen, die Kehle durchschneiden?
Es nicht nur erlösen, sondern ihm auch noch den Bauch aufschneiden, es dann ausnehmen, sein schneeweißes Fell abziehen?
Als Adelheid kurzerhand „Dett macht Vatta!“ verkündete, fiel dem Hans ein Stein von der Brust. Mill und Jank verließen hastig den Hof und gingen, ohne sich umzusehen, hinüber zum Rolf. Hans fiel plötzlich ein, dass er auf dem Acker zu tun hatte und Roland war sowieso irgendwo mit irgendwem. Nur Hedwig blieb.
Der alte Lettau nahm das Zickele, schlug ihm mit dem stumpfen Beil auf das Schädeldach und ließ es nach gekonntem Kehlschnitt am Rand des Misthaufens ausbluten und auszittern. Dann knotete er zwei Schnüre an die Hinterläufe und hängte das Tierchen an die beiden Eisenhaken, die aus der Schweinestalltür herausragten. Der eingeschlagene Kopf vom Zickele hing nach unten und die raue Zunge lugte aus dem Mäulchen.
***
Oft hatte es dem Mill vor und nach dem Füttern die Hände geleckt. Da musste er sich immer kugeln vor Lachen, weil er so kitzlich war.
„Mama, kuckma, die mag mich!“, hatte er dann immer gerufen.
„Ja!“
„Du kuckst ja ganich!“
„Ich kuck schon, aber jetzt muss ich umgrabm!“
***
Nach dem Bauchschnitt fielen die leeren, ausgehungerten Därme in die kleine Zinkwanne, die Hedwig darunterhielt.
„Uffm Mist“, brummelte der alte Lettau ihr tonlos zu und sie kippte das Gedärm aus. Als sie davon zurückkam, hingen nur noch der Kopf und die Beinchen im Fell.
„Bei sone Notschlachtung darfste von die Innereien uff keen Fall watt nehm. Dett kannste ooch uffm Haufm schmeißn. Da könnte man sich weeß Jott watt holn.“
Adelheid kannte sich mit solchen Sachen aus und Hedwig war dankbar für ihren Rat.
Das Zickele gab es nicht mehr. Nur noch magere, rosafarbene Stücke, die im großen Aluminiumtopf auf den Eisenringen des Küchenherds zwei Stunden lang durchgekocht werden mussten. Als Mill und Jank zurückkamen, merkten sie den würgenden Geruch, der bis in den Hof hinausdrang.
Sie fragten ihre Mutter nicht, sondern verzogen sich lieber in den Lettaugarten und pflückten sich dort eine Handvoll von unreifen Durchfallstachelbeeren. Mill hatte beim Hinausgehen noch einen Blick auf das zerfaserte Seil werfen müssen, mit dem er sein Zickele immer durch Luzerne und Klee geführt hatte.
Geweint hat keiner von beiden, aber essen konnten sie es nicht. Die Mutter musste zu einer List greifen und drehte das Fleisch vom Zickele durch Adelheid Lettaus Fleischwolf. Nur in einem Bohneneintopf versteckt, mit Schnittlauch und viel gehackten Zwiebeln garniert und durch einen goldenen Suppensee aus Rapsöl getarnt, konnte sie es den Söhnen andrehen.
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