Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 50

Joachim entdeckt das 17. Jahrhundert

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Immer wieder hatte er probiert, ganz allein in die Dorfkirche hineinzukommen. Aber nachdem der dunkle Strom der Kirchgänger in schwarzer Sonntagstracht wieder in die einzelnen Gehöfte zurückgezogen war, hatte jemand die Tür unbarmherzig abgesperrt. Doch an einem warmen Sonntagvormittag gab die hohe Klinke der Hand des kleinen Jungen nach. Mit der Schulter stemmte er sich seinen Eintrittsspalt frei und stand dann im stickigen Halbdunkel.

In die verbrauchte Luft aus dem gerade beendeten Gottesdienst hatten sich Stalldunst und Kerzengeruch gemischt. Mill ließ die schwere Tür wieder einschnappen. Er wollte ganz allein da drin sein. Sein Blick suchte vergeblich nach einem Weihwasserbecken. Eigentlich wollte er ja hier nur einmal ganz unbeobachtet eine Kniebeuge machen.

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Seine Mutter hatte ihn früher in Oppeln in die leere Herz-Jesu-Kirche mitgenommen. Ihr Einkaufsnetz stellte sie dann immer in der hintersten Kniebank ab. Er wusste es noch ganz genau, dass sie mit ihm damals im Mittelgang bis ganz nach vorne gegangen war.

“Wenn ein rotes Licht von der Decke runterhängt, dann is der liebe Gott auch hier. Dann muss man eine Kniebeuge machn. Kuckma so.“

Obwohl die beiden ganz allein in der Kirche waren, hatte sie es ihm ins Ohr geflüstert, die Kniebeuge vorgemacht, ihn dabei zugleich neben sich an der Hand auf den kratzigen, roten Läufer hinuntergezogen.

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Aber das geheimnisvolle, rote Licht fehlte hier. Er wollte nichts falsch machen und kniete sich vorsichtshalber nicht hin. Da musste er erst einmal seine Mutter fragen. Außerdem war das hier nicht seine Kirche. Das war die Kirche, die den Leuten vom Dorf gehörte.

Die Flüchtlinge hatten einen ganz anderen Gottesdienst. Dafür kam alle zwei Wochen der Herr Erzpriester auf einem schwarzen Damenfahrrad mit einem kleinen Koffer auf dem Gepäckträger. Den hatte er darauf immer mit zwei alten Hosengürteln festgeschnallt.

„Der hat zwei Jahre im Zuchthaus Brandenburg gesessen.“

Diesen Satz hatte er mal aufschnappen können, als sich eine Flüchtlingsfrau nach dem Gottesdienst mit seiner Mutter über den Herrn Erzpriester unterhielt.

„Mama, hatter was geklaut?“
„Der hat nischt gemacht. Der war für sein Glaubm im Gefängnis.“

Mill konnte sich darunter zwar nichts vorstellen, war aber durch den Tonfall beruhigt.

In der Gastwirtschaft Pannack hatte seine Mutter dann einen Wirtshaustisch abgeschrubbt und mit schneeweißem Tischtuch gedeckt. Der Herr Erzpriester holte den Kelch, zwei Kerzenleuchter, Altarkerzen, das Messingglöckchen und sein goldbesticktes Messgewand aus dem Koffer. Danach ging er immer in einen Nebenraum und zog sich um. Wenn er herauskam, mussten Roland und Hans ihm ministrieren. Die wussten genau, wann sie zu läuten, sich hinzuknien oder aufzustehen hatten. Das kannten die schon von Oppeln her. Wenn der Priester DOMINUS VOBISCUM sagte, da antworteten die Großen zusammen ET CUM SPIRITU TUO. Mill konnte das auch schon sprechen. Er wusste zwar nicht, was das bedeutete, aber es klang gut. Außerdem spürte er, dass es seiner Mutter gefiel, wenn er es ganz deutlich sprach.

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In den alten Holzbänken der Kirche konnte er auch nicht knien, nur sitzen oder stehen. Den Altar wollte er sich schon mal näher anschauen. Der war zwar viel kleiner, als der Altar in der Herz-Jesu-Kirche, erinnerte ihn aber trotzdem daran, weil ihn auch hier eine Mutter Gottes mit freundlichem Gesicht ansah. Um nach vorne zu kommen, ging er in seiner Sitzreihe bis zur Wand durch. Die Mitte wollte er unbedingt vermeiden. Als er die Stufen zum Altar hochstieg, sah er sich zur Eingangstür um. Fast hatte er ein Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Wo er auch stand, die Mutter Gottes aus Holz sah ihn von allen Seiten an. Jetzt, als er ihr so nahe war, erlaubte sie ihm sogar, hinter den Altar zu gehen. Nur ein paar weiße Holztafeln mit schwarzen Zahlen lagen auf dem Steinboden verstreut. Bevor er sich zum Rückzug entschloss, fiel ihm noch ein Holzschild auf, das hinter dem Altar hing. Die Buchstaben, die er von der Schiefertafel seines Bruders gelernt hatte, sahen aber ganz anders aus. Ein Wort aber fiel ihm besonders auf. Das war falsch geschrieben und beim Hinausgehen in den wolkenlosen Tag wiederholte er es immer wieder halblaut. Das wollte er unbedingt seine Mutter fragen.

„In der Kirche, da hamse Jesus falsch geschriebm. Die hamm da geschriebm Jesuiten.“

Das habe er falsch gelesen. In solchen Kirchen würde nie Jesuiten stehn.

Sie schüttelte den Kopf, streute Mehl auf den Nudelteig und begann damit, ihn flach auszuwalzen. Er ließ ihr damit aber keine Ruhe. Auch Adelheid Lettau, die ja in dieser Kirche sogar ihre Konfirmation gefeiert hatte, wusste von diesem Wort nichts.

Noch am selben Nachmittag zog er seine Mutter zur Kirche. Sie hatte extra eine Arbeit unterbrochen, wollte dann aber dafür von diesem Plagegeist endlich in Ruhe gelassen werden. Die Kirchentür stand weit offen. Hedwig trat ein, machte ihm mit ihrer Spucke das Kreuzzeichen, verbiss sich die Kniebeuge und ließ sich von ihrem Jüngsten gleich hinter den Altar führen.

Sie las die Schrift mit stumm bewegten Lippen. Dann schüttelte sie ihren Kopf. „Du hast Recht. Komm, wir gehn. Also sowas mechte man nich fir meeglich haltn.“
„Und was stehtn da?“
„Da steht, dass sie die Jesuiten aus der Kirche rausjagn.“
„Und was sind Jesuiten?“
„Das sind Männer, wie der Pater Gondscho, der dir immer was mitgebracht hat, wenn er bei uns zu Besuch war. Oder wie der Pater Ogihara aus Japan, der so schmale Augen hat und dem Papa Briefe aus Hiroshima schreibt, in die er immer so schöne Blüten hineinmalt“.

Jetzt konnte er verstehen, warum seine Mutter so wütend war.