Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 49
Der Kammersänger
Dort, wo es zu den Spargelfeldern hinaufging, wohnte Axel Straubert mit Frau und Tochter. Es war eine Holzbaracke mit flachem, weit überstehendem Teerpappendach.
Frau Straubert war groß und kräftig gebaut, überragte sogar ihren Mann. Dennoch wirkte sie auf eine seltsame Weise immer noch mädchenhaft. Herr Straubert war mit ihr schon vor den Ostflüchtlingen ins Dorf gekommen. Die Bombennächte in Berlin hatten die Künstlerfamilie zermürbt. Auch hatte er als Kammersänger seit einem halben Jahr kein Engagement mehr bekommen. Seiner Frau Sonja war es noch gelungen, mit ein paar Klavierstunden den finanziellen Engpass zu überbrücken. Als sie dann nach einem Nachtangriff einen ganzen Tag nichts mehr sprechen konnte, war sein unumstößlicher Plan gefasst. Raus aufs Land – Dahin, wo man von Bombenangriffen höchstens etwas aus dem Volksempfänger hört.
Der Herr von Brandensteig hatte ihn vor dem Krieg als Prominenten sogar einmal zur Hasenjagd eingeladen. Jetzt zahlte Kammersänger Axel Straubert hier lächerliche zehn Reichsmark Miete. Um die ärmliche Baracke hatte er sich inzwischen ein kleines Gartenparadies zur Selbstversorgung angelegt. Nachdem es aber keinen Herrn von Brandensteig mehr in Drahnsdorf gab, wohnte er darin sogar kostenlos.
Seiner Sonja fiel das Leben in dieser Abgeschiedenheit und Primitivität sehr viel schwerer als ihm. Die Zeiten, in denen sie nach den Bühnenauftritten ihres Mannes kleine Soirees gab, waren passe´. Eine „Perle“, die sie noch in Berlin-Wilmersdorf bekocht und die ihnen auch den sonstigen Haushalt geführt hatte, gab es hier nicht. „Gnädige Frau“ wollte und konnte hier keiner mehr zu ihr sagen. Schon eine Ewigkeit hatte sie ihre Hand nicht mehr zum Handkuss gereicht.
Mit Tonleiterübungen, Schmettern von Intervallen und Trällern von Vokalen versuchte der Sänger das Einrosten seiner Stimme zu verhindern. Mill wurde durch sein auf- und absteigendes mamama, momomo, mimimi,mumumu und mememe angelockt. Er ließ sich auf der Holztreppe der Baracke nieder, um so diesen eigenwilligen Tönen näher zu lauschen.
Der Sänger kam vor die Tür und sagte so etwas wie „Na, kleiner Mann …“ zu ihm. Dann nahm er ihn hinein in seine Behausung. Es roch nach angebrannter Milch. Frau Straubert nickte ihm freundlich beim Abwasch zu. Mill gefiel sie, weil sie keine Frisur hatte, sondern einfach nur Haare.
Der Herr Straubert war etwa so alt, wie Mills Vater. Aber seine Haare waren noch voll, gewellt und reichten über den Nacken. So etwas gefiel ihm auch. Der Junge wollte ihn noch fragen, warum das Kammersänger heißt. Aber er traute sich nicht. Bestimmt würde ihm das seine Mutter erklären.
„Deine Frau Mama ist eine feine Frau.“
Sonja Straubert lächelte und nickte zustimmend. Mill merkte, dass sein Gesicht heiß wurde. Nicht, weil er sich schämte, sondern weil er das auch dachte. Besonders gern hörte er, wenn der Herr Kammersänger das Wort Mama so aussprach, dass das zweite ma betont wurde.
„Wir haben schon oft auf dem Spargelfeld zusammen mit deiner Frau Mama gearbeitet. Dabei hat sie uns erzählt, dass sie gern mal ein Konzert von mir besuchen würde.“
Er nickte brav, dachte kurz nach und malte es sich dann genau aus. Seine Mama und er allein in einem Konzert vom Straubert. Wenn der mit einem Lied fertig wäre, dann würden sie zusammen klatschen, er und seine Mama.
Als hätte Axel Straubert Gedanken lesen können, holte er eine Schallplatte aus dem Pappkoffer, der auf dem Bretterfußboden stand. Er hatte sie da drin zwischen zwei Kissen gelagert, hielt sie vorsichtig mit beiden Händen am Rand und ließ sie langsam auf den Teller des Grammophons herabschweben. Die Musik erschien Mill nicht so schön wie der Gesang von dem russischen Kuhhirten damals auf der Weide, aber der Junge dachte sich das nur. Der Kammersänger sah Mill erwartungsvoll an und rief dröhnend „Ja, das ist Musik!“
Mill nickte wieder brav und sagte, dass er jetzt gehen müsse.
„Von meiner großen Schallplattensammlung in Berlin erzähl ich dir das nächste Mal.“
Der Kammersänger begleitete den Kleinen aus der Baracke wieder hinaus.
***
An einem Wochenende gab es dann sogar ein richtiges Konzert. Ein Zettel an der Eingangstür zur Dorfgaststätte kündigte das Ereignis schon mit dicken Bleistiftstrichen an. Ein Manfred Adamcyk, so war darauf zu lesen, sollte zuerst auf dem Akkordeon Melodien spielen. Danach käme der Kammersänger Axel Straubert mit Arien.
Der Saal war schon um halb acht voll. Man musste sogar Stühle aus einem Nebenzimmer hereinholen. In den vorderen Reihen saßen die Kinder. Die Jugendlichen lehnten an den Wänden, die meisten davon in Türnähe.
„Wenn’s Scheiße wird, dann verdrücken wir uns“, hörte Mill einen sagen, an dessen Zigarettenglut sich sein ältester Bruder schon mal eine Selbstgedrehte angezündet hatte. Den Akkordeonspieler hatte er in Drahnsdorf noch nie gesehen. Er war ungefähr so alt wie Jank. Sein Akkordeon war so ein Riesending, dass er es nur im Sitzen spielen konnte.
Axel Straubert kam auf die Bühne. Mill dachte, dass der jetzt auch gleich singt. Axel Straubert sagte aber nur an. Dass der Junge ein Talent sei, und dass er jetzt Arien aus Opern, einen Walzer und einen Tango spielen wird. Dann klappte er ihm noch den Notenständer auf, stellte ihn vor Manfred Adamcyk hin und brachte ihn auf die richtige Augenhöhe.
Am Anfang waren die Kinder noch ruhig. Bald aber begannen einige, dabei herumzuzappeln und sich auch gegenseitig in die Ohren zu flüstern. Herr Straubert stand dann von seinem Platz auf und legte streng den Zeigefinger auf den Mund. Das störende Getuschel verebbte.
Der Akkordeonspieler war fertig und streifte sich sein Rieseninstrument im Sitzen von den Schultern. Der Kammersänger half ihm nun beim Verpacken in den Akkordeonkasten. Alle Zuschauer waren dabei still und man konnte hören, wie die vier Schlösser einschnappten.
Dann war der Kammersänger Axel Straubert selber dran. Bevor er zu singen anfing, sagte er, dass sich seine Lieder natürlich noch viel schöner anhören würden, wenn ihn jemand auf dem Klavier begleiten könnte. Aber leider sei hier ja keins. Er trug einen gebügelten, dunklen Anzug und hatte eine silberne Fliege am Hemdkragen. Aus seiner Brusttasche holte er eine Stimmgabel, tupfte sie an die Stuhllehne, hörte sich den Ton an und summte ihn nach. Er sang viele Arien aus Italien. Mill staunte, dass er Italienisch konnte, wie hoch er kam und wie sein Kinn mitzitterte, wenn seine Stimme auch zitterte. Am besten gefiel ihm das Lied TIRITOMBA. Allein schon das Wort.
Als das Konzert aus war, stand Axel Strauberts Frau zusammen mit der Mutter des Akkordeonspielers am Ausgang. Beide hielten Suppenteller in den Händen. Sie sammelten freiwillige Spenden für die Künstler.
Mill war klein. Im Gedränge zum Ausgang ging er fast unter. Er konnte nicht sehen, wieviel gespendet wurde. Ab und zu klimperte etwas hinein. Er selbst hatte keinen Pfennig und war froh, als er vor sich sah, wie seine Mutter der Frau Straubert und der Frau Adamcyk etwas auf den Teller legte. Die Frau Straubert lächelte seine Mutter freundlich an.
Auf dem Heimweg musste er dauernd TIRITOMBA singen. Schade, dass er den Text nicht kannte. So versuchte er, dazu sein eigenes Italienisch zu erfinden.
***
Mills Mutter hatte sich im Konzert nur zwei Stuhlreihen hinter ihn gesetzt. Einmal drehte er sich nach ihr um. Da sah er, dass ihre Augen vor Begeisterung leuchteten und sie sah für ihn aus wie ein Mädchen. Das war an einer Stelle, wo der Kammersänger den letzten Ton von TIRITOMBA ganz besonders hoch und besonders lang gesungen hatte.
Im Bett noch verfolgte ihn dieses Lied. Aber in die regelmäßigen und deutlichen Atemzüge der Brüder konnte er doch nicht hineinsingen. Da hörte er, wie seine Mutter „Trotzdem, Perlen vor die Säue!“, in die Stubendunkelheit hineinsagte.
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