Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 48
Das Spinnrad
Mills Zahnbürste hatte platt gedrückte Borsten, sah aus wie ein Kornfeld nach dem Hagelschlag. Die schneeweiße KALIKLORA-Zahnpasta in Tuben mit dem frischen Pfefferminzgeschmack – das war Vergangenheit. Am Dorfbahnhof hatte er noch so ein altes Reklameschild entdeckt.
„Mama, kuckma. Da is die Zahnpasta aus der Sedanstraße!“
Mit weit ausgestrecktem Arm deutete er auf das Schild mit der Tube . Hedwig hatte immer darauf geachtet, dass sich ihre Jungen regelmäßig die Zähne putzten. Jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihre Bürsten an einem Stück der russischen Kernseife zu reiben. Danach musste man immer lange nachspülen, weil einem sonst die ganze Haut im Mund so wellig wurde. Außerdem kam später beim Essen der Seifengeschmack immer widerwärtig durch.
„Habter schon Zähne geputzt?“
Das ewig einstimmige „Ja, Mama“ ließ Hedwig dann eines Tages doch stutzig werden. Ihre Mund-auf-Kontrolle endete mit einem gefürchteten Satz.
„Da müssn wir mal nach Golßen zum Zahnarzt fahrn.“
Einsilbig saß Mill seiner Mutter im Abteil gegenüber. An Essen war auch nicht zu denken, denn Hedwig hatte seine Backenzahnruine vorher eigenhändig mit einer dicken Nadel von Frühstücksresten geräumt. Als sie ihren Joachim so bedrückt mit den Baumelbeinen sitzen sah, versuchte sie, ihm Mut zu machen, obwohl die Ruine auch für sie niederschmetternd gewirkt hatte.
„Der macht bloß das Braune a bissl weg und dann kriegst du eine Einlage. Wirst du sehn.“
Das Schild Dr. med. dent. zeigte ihm, dass es jetzt kein Entkommen mehr gab. Eine Frau in langem, hinten geknöpftem weißem Kittel stand im Türrahmen.
„Der Nächste, bitte!“
Der Zahnarzt pumpte den Stuhl mit einem Pedal hoch. Unaufgefordert öffnete Mill den Mund.
„Eijeijeijeijei, da wird’s aber Zeit!“
Er nahm den Handgriff des Bohrers mit den langen Spinnenbeingelenken und ließ mit leisem Klick einen winzigen Bohrkopf einrasten.
„Der Herr Doktor tut jetz bloß a bissl das Braune rausholn.“
Er hörte die Stimme seiner Mutter. Hinten an der Praxiswand stand ein Stuhl. Da musste sie sich also hingesetzt haben. Er war jetzt ruhiger.
„Na, dann wolln wer mal.“
Mill hatte die ganze Zeit den Mund auf. Die Treibriemen des Bohrers ließen den Bohrkopf sein Schmerz verheißendes Lied singen. Der kleine Patient spürte, wie der Arzt die Innenwand seiner Backenzahnruine ausschälte und roch dabei den Gestank der versengten Bohrreste. Es stank so ähnlich, wie beim Drahnsdorfer Schmied, wenn er die glühenden Hufeisen aufsetzt. Aber es tat eigentlich noch nicht richtig weh. Als dann auf einmal das Licht über dem Behandlungsstuhl ausging und zur gleichen Zeit der Bohrer anhielt, glaubte er sich gerettet und drehte sich nach seiner Mutter um. Sie saß immer noch an der Wand, lächelte ihm zu. Der Zahnarzt kramte ein Stück Kupferdraht aus einer Schublade und ging hinaus.
„Der Herr Dokter flickt jetzt bloß schnell die Sicherung. Gleich geht’s weiter.“ Er rutschte schon auf dem Sitz herum und fragte nach der Abfahrtszeit.
Das sei heute schon das zweite Mal, dass so etwas passiere.
Die Stimme des Arztes klang nicht so, als spräche er zu dem kleinen Patienten. Beim Anschalten der Bohrmaschine leuchtete dieses weiße Licht über seinem Behandlungsstuhl wieder nur ganz kurz auf und verlöschte danach sofort. Darauf erklärte der Dr. med. dent., dass ihm nichts anderes übrig bleibe, als zum alten Tretbohrer zu greifen. Schließlich müsse er noch mit der Einlage fertig werden. Wieder hörte Mill, wie die Arztstimme über ihn hinweg zu seiner Mutter ging. Er holte den Tretbohrer aus der Ecke und stellte ihn neben den Patientenstuhl. Den lose herunterhängenden Treibriemen spannte er zuerst einmal über das große Schwungrad. Der Tretbohrer begann zu surren.
Mit solchen Pedalen kannte sich Mill aus. Vor der Flucht hatte er bei Mamas versenkbarer SINGER-Nähmaschine manchmal das Schwungrad auf höchste Touren bringen dürfen. Aber nur, wenn sie den Treibriemen abgenommen hatte.
Der Bohrkopf rotierte in der Zahnruine im Rhythmus des Pedaltretens. Im Kopf dröhnte und röhrte es, dass er fast Mama geschrien hätte. Mit aufgesperrtem Mund konnte er nur ein lang gezogenes a ausstoßen. Eine eklig schmeckende Einlage beendete für diesen Tag die Behandlung.
„Der junge Mann war ja ganz schön tapfer heute!“
Mill lächelte etwas schief und wurde rot. Draußen erzählte ihm Hedwig dann, so einen Tretbohrer habe es schon zu ihrer eigenen Kinderzeit gegeben und auch, dass sie dieses Ding damals immer Spinnrad genannt hätten.
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