Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 44

Im Keller

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Ein feuchtkalter und böiger Herbsttag. Wie so oft saßen Roland, der amputierte Sunke und der Schroppe bei einem Heißgetränk, quatschten und qualmten ihre Selbstgedrehten.

Zur gleichen Zeit waren Hedwig, Hans und die zwei Jüngsten auf dem Acker. Die Mutter und Hans standen breitbeinig in den Kartoffelreihen und hackten die erdverkrusteten Knollen aus dem Feld. Der alte Lettau hatte dem Hans seine eigene Lieblingssorte Ackersegen empfohlen. Als Hedwig sich aus der ungewohnt gebückten Hackstellung aufrichtete, fasste sie sich mit beiden Händen an den Rücken.

„Kuckt mal. Der Herrgott meint es doch gutt mit uns. Ackersegen ist wirklich ein Segen! Mal sehn, wer von euch die größte Kartoffel findet.“

Die beiden Jüngsten überboten sich, wobei Jank die größten, Mill dagegen die wunderlichsten und skurrilsten Knollen sammelte. Hans rief sie zu richtiger Erntearbeit herbei. Schluss mit der Spielerei. Sie mussten die Ernte in große Jutesäcke füllen, dann das vertrocknete Kartoffelkraut auf einen Haufen zusammenrechen.

Am Ackerrand wartete schon der große, frisch geschmierte Handwagen. Er hatte neben der Deichsel noch einen Eisenhaken. Da musste das breit geflochtene Zugband eingehakt werden. Man legte es sich schräg über den Oberkörper, wenn zwei an der Deichsel zu schwach waren.

***

In dem Moment, in dem Hedwig und Hans die Kartoffelsäcke auf den Wagen wuchteten, winkte sich der Roland den Schroppe flüsternah heran.

„Wenn du noch ein Heißgetränk springen lässt, dann bist du auch an meinem fantastischen Plan beteiligt. Da ist mindestens für jeden von uns ein Hunderter drin. Wenn das reicht!“

„Da bin ick aba jespannt wie een alta Rejenschirm.“

Der Schroppe grinste und füllte ihm noch einen Glaskrug. Dann steckten sie ihre Köpfe näher zusammen.

***

Auf dem abgeernteten Kartoffelacker bei der Schule standen neben einer langen Kartoffelmiete noch zwei prall gefüllte Zentnersäcke aneinander gelehnt. Der Bauer war mit dem Aufladen nicht mehr fertig geworden, denn die frühe Dunkelheit hatte ihn überrascht. Die letzten zwei Säcke wollte er am nächsten Morgen noch vor dem Melken holen. Sein Hof lag sowieso fast in Sichweite direkt am Ortsausgang.

Zwei Gestalten in langen Mänteln zogen mit einem Handwagen aus dem Ort hinaus. Nach kurzer Zeit kamen die beiden schon wieder mit voll beladenem Wagen zurück. Der Bauer pisste in dem Augenblick, wie gewohnt, auf seinen Misthaufen. Als er am nächsten Morgen seine letzten Kartoffelsäcke einholen wollte, wurde ihm manches klar.

***

Jemand klopfte an das winzige Küchenfenster bei Wachtmeister Schreiber. Er wollte eine Anzeige machen, verhaspelte sich dann beim Sprechen vor Wut und die Zornader an seiner Schläfe quoll wie ein gewundener Flusslauf hervor.

„Nu ma schön die Reihe nach. Ick will nich wissen, watte mit die Vabrecha machen willst, wenn de se in de Finga krichst. Watt haste jesehn, wem haste jesehn und wann haste wem jesehn?“

Wachtmeister Schreiber hasste es, wenn rabiate, verbiesterte Leute so schnell auf hundertachtzig waren. Schließlich musste er ein anständiges Protokoll aufnehmen, das hieb- und stichfest war. Diese Bauern hatten ja keinen blassen Dunst davon, welche Arbeit so ein Schreibkram machte.

„Die hamm mir beklaut. Zwee Zentna Saatkartoffln hammse mir jeklaut. Zwee janze Säcke von meine beste Sorte. Direkt von Feld. Der eene iss der Sohn vonne Bahnhofskneipe, der Schroppe. Der Vatta is jefalln. Der andere iss der Junge vonne Waschfrau bei die Iwans. Der Jrößte. Dett sind die, die hammse bein altn Lettau einquartiert. So watt jehört hinta Schloss und Riejel, Otto.“

***

Wachtmeister Otto Schreiber putzte sich erst noch die Brotkrumen von seinem Dienstunterhemd, zog sich ächzend die Langschäfter an, nahm die Polizeijacke vom Kleiderhaken an der Tür und schnallte sich noch seine Dienstwaffe mit dem schwarzen Lederkoppel um.

Seine Frau hatte im Nebenraum alles mitgehört. Sie reichte ihm unaufgefordert die Schirmmütze. Mit dem schweren, alten Dienstrad strampelte er über die Abkürzung in Richtung Bahnhof. Das mit dem jungen Schroppe war ihm ja besonders unangenehm. Schließlich hatte er mit dem alten Schroppe so manche Skatrunde gedroschen, so manches Schultheiß hinter die Binde gegossen und so manchen Klaren gekippt.

Aber jetzt, wo es den alten Schroppe nicht mehr gab, hatte der Wachtmeister seinen eigenen Angstknoten noch nicht lösen können. Wie sollte er der Frau seines ehemaligen Zechkumpans jetzt gegenübertreten? Würde ihm die Witwe vielleicht sogar Vorwürfe machen, er habe sich in der Polizeiuniform vor dem Fronteinsatz gedrückt? Und jetzt sollte er ihr auch noch mit einem Diebstahl kommen, den ihr Sohn angeblich begangen hatte?

Als er bei der großen Lindengruppe vorbeistrampelte, wehte ihm der steife Herbstwind die Mütze vom Kopf. Er war froh, dass ihn niemand so sah. Erst, als er sie gefunden und aufgesetzt hatte, fühlte er sich wieder als Vertreter des Gesetzes.

***

Das war sowieso keine ganz leichte Sache, hier in Drahnsdorf Polizist zu sein. Jeder kannte jeden. Die meisten hatten ihn auch schon mal mit Hosenträgern und in Gummistiefeln gesehen, wenn er hinter seiner Dienstwohnung den kleinen Kaninchenstall ausmistete oder Holz hackte.

Am Bahnhof lehnte er das Rad an der Stelle gegen die Mauer, wo Mill und Jank sich ab und zu bis zum Fenstersims hochzogen, um einen Blick auf die Qualmer und Heißgetränketrinker zu erhaschen.

Die Bahnhofsgaststätte war leer. Nur Frau Schroppe wischte noch irgendwo mit einem Putzlappen herum. Als sie erstaunt hochschaute, war Schreiber um eine amtliche Gesichtsmaske bemüht. Aber bevor er noch sagen konnte:

„Martha, ick bin dienstlich hier“, begrüßte sie ihn spöttisch.

„So, der Herr Wachtmeesta in höchsteijener Person. Und watt vaschafft mir die Ehre?“

Er brauchte nicht näher zu kommen, um zu riechen, dass sie schon ihren Trostschluck intus hatte. Seit dem allgemeinen Gerede, der Schroppe wäre entweder vermisst oder gefallen, hatte er sich aus Unsicherheit nicht mehr hier blicken lassen. Deshalb schminkte er sich seine Dienstmaske schnell ab.

„Ach weeste, Martha, da jeht een Jerücht, dein Junge hätte irjendwatt mit een Saatkatoffldiebstahl ze tun. Ick kann mia ja bein bestn Willn nich vorstelln, watt dett übahaupt soll. Ick muss die Anjelejenheit jetz dienstlich nachjehn. Det is reine Formsache, reine Formsache is dett. Du weest also ooch nischt.“

Die Bahnhofswirtin schüttelte langsam und entgeistert den Kopf. Bald darauf hörte sie die Schutzbleche von Schreibers Fahrrad klappern, als er es über die Gleise schob, um wieder die Abkürzung zurück ins Dorf zu nehmen.

***

Als der Wachtmeister dann beim Anwesen Lettau anklopfte, holte die Adelheid den Roland an die Tür. Nach kurzem Leugnen gab er zu, zusammen mit dem Schroppe und dem Sunke den Diebstahl geplant und begangen zu haben. In der Waschküche vom Schroppe stünden die zwei Säcke noch. Sie hätten vorgehabt, daraus Schnaps zu brennen. Den habe der Sunke dann später am Bahnhof bei den Berliner Hamsterern verkaufen sollen.

Roland musste die beiden geklauten Säcke mit einem Handwagen gleich beim Schroppe abholen und zum bestohlenen Bauern zurückbringen. Der Wachtmeister wartete da schon auf ihn. Roland war froh, dass er das Diebesgut bloß auf den Hof kippen musste.

Gott sei Dank war der Bauer gerade beim Ausmisten. So blieben ihm die peinliche Gegenüberstellung und die Beschimpfung erspart. Jetzt aber nahm Schreiber den jungen Kerl mit der rechten Hand am Jackenkragen und schob mit der linken sein Dienstrad nebenher. Roland wäre vor Scham am liebsten in den Boden versunken. Er, der noch vor kurzem unter der Eisenbahnbrücke bei den Sprengkapseln Wache geschoben hatte, der mit Karabiner und Panzerfaust umgehen konnte, er wurde als überführter Kartoffeldieb am Schlafittchen durch dieses Scheißkaff geführt. Wenn ihn jetzt die Helga so sehen würde, dann wäre er bei ihr garantiert auf ewige Zeiten abgemeldet.

Sie waren am Pfarrhaus angekommen.

„Der Russe hat jesacht, det ick dir arretieren muss.“

Dann sperrte er den Jungen in einen winzigen, vergitterten Vorratsraum im Keller des Pastorhauses.

„Morjen wirste die Russn ausjeliefert. Dett Jesetz muss Jenüje jeleistet werdn. Nu haste den Salat!“

Schreiber verschloss krachend die Tür mit einem Schieberiegel von außen und ließ ein Vorhängeschloss einschnappen. Nach einiger Zeit kam er noch einmal die Kellertreppe herunter. Roland erkannte ihn an dem Klang seiner mit Eisen beschlagenen Stiefelabsätze. Der Wachtmeister warf ihm noch zwei Wolldecken hinein und murmelte dazu halblaut, aber für den Eingesperrten doch noch deutlich hörbar:

„Soll keener sagn, dett der Schreiber keen Herz im Leibe hat.“

Roland versuchte zuerst einmal, stolz auf die Wolldecken zu verzichten. Als dann aber die klamme Kälte der Nacht durch das undichte Gitterfenster kroch, wickelte er sich doch in beide ein. Am nächsten Morgen wurde er durch das Geräusch von Schreibers genagelten Stiefelabsätzen wach. Hastig warf er die beiden Wolldecken wieder in die Ecke, aus der er sie geholt hatte.

„Ick hoffe, dette watt gelernt hast in diese Nacht. Ick habe jestan noch bei deine Mutta Bescheid jesacht, watt de für ein Früchtchen bist und in welchet Hotel der junge Herr belieben zu speisen. Weeste, wattse jesacht hat, deine Mutta? Nüscht hatse jesacht. Jeflennt hat se.“

Roland schwieg trotzig, aber Schreiber hatte gemerkt, dass die Wolldecken noch warm waren.

„Ick will dir hier untn nie wieda sehn, hastevastehste, compri?“

Als Roland dann zusammen mit Schreiber in den Vorgarten des Pastorhauses kam, da hatte ein erster Nachtfrost einen Teil der goldgelben Kastanienblätter zu Boden geschickt. Er watete in ihrem Rascheln. Auf der Dorfstraße wechselte der Wachtmeister gleich auf das Pflaster, um den Klang seiner Stiefelabsätze zu hören. Roland ging stumm neben ihm auf dem sandigen Gehweg bis zum Anwesen vom Lettau.

Sie trennten sich ohne ein Wort.

Otto Schreiber blieb nur kurz stehen und überzeugte sich, ob der Junge auch wirklich den Hof betrat. Am Fenster war der kleine Mill hinter den Gardinen ein heimlicher Zeuge von Rolands Ankunft, schob sich flink in sein warmes Bett, das er vorher eigentlich zum Pinkeln verlassen hatte. Er hatte nichts gesehen.