Sonntagsgedanken: Aus China

Pfarrer Dr. Christian Fuchs

Pfarrer Dr. Christian Fuchs

In China soll es folgende Sitte geben: Einmal im Jahr trifft sich die Großfamilie, man setzt sich an einen Tisch, stopft sich die Ohren fest zu und dann legt jeder tüchtig los. Die Versammelten schreien einander an, beschimpfen sich gegenseitig, man hält dem andern vor, was man ihm schon immer mal sagen wollte, aber sich nie traute. Wenn dann alle heiser sind vom Schimpfen, Heulen und Fluchen, dann reinigt jeder seine Ohren, man verneigt sich freundlich, lächelt wie in China üblich und geht, innerlich erleichtert, nach Hause.

Dieser Brauch mag zwar dazu dienen, die Seele vom drückenden Ballast zu befreien, aber er wirkt doch ziemlich heuchlerisch. Man drückt sich davor, dem andern klar und deutlich die eigene Meinung zu sagen, man scheut den Konflikt und schließlich bleiben die Beziehungen belastet, Missverständnisse, Vorurteile, Verletzungen bleiben bestehen, nur um den schönen Schein zu wahren. Aber woher soll ich die Kraft, das Geschick nehmen, meine Sache vorzubringen, ohne den andern zu verletzen? So ein offenes Gespräch kann wehtun, kann Beziehungen zerstören.  Ist es nicht manchmal besser, etwas auf sich beruhen zu Lassen. Manche Probleme lösen sich ja im Lauf der Zeit von selbst. Ich möchte so eine Krise als Chance verstehen, persönlich, aber auch in der Gemeinschaft zu wachsen. Harmonie schläfert ein, der Konflikt deckt auf, was der einzelne dachte, wollte, aber sich nicht zu sagen traute. Ich wünsche mir eine konfliktfähige Kirche: Offen und fair soll jeder seine Sache vorbringen, auf die andern hören, nach Lösungen oder zumindest Kompromissen  suchen. Ich bin überzeugt, dass Gottes Heiliger Geist uns die Ruhe, die Kraft dazu schenken will. Doch müssen wir uns für ihn öffnen, ihn wirken lassen.

Pfarrer Dr. Christian Fuchs, www.neustadt-aisch-evangelisch.de