Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 34

Magermilchgewimmer

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Bei der kleinen Molkerei im Nachbardorf, hieß es, da soll es noch Magermilch geben. Hedwig rief den Hans, ihren Zweitältesten, drückte ihm ein paar Münzen in die Hand und schickte ihn los. Er sollte mit der Fünfliterkanne zur Molkerei gehen. Diese Kanne hatten sie sich erst im letzten Frühling aus dem abgeschossenen Soldatenzug organisiert. Sie war damals mit Biomalz gefüllt. Die honigartige, bräunliche Kraftnahrung für die Frontsoldaten war ein Geschenk des Himmels gewesen. Jetzt im tiefsten Winter war die Kanne leer.

„Und wenn du bloß ein Liter kriegst – ein Liter ist immerhin ein Liter. Und zieh dich warm an. Das sieht so aus, als ob es noch schnein wird. Ich muss jetzt erst mal rüber zur Frau Stanek wegn derAnprobe. Die lässt sich doch von mir ein Kleid nähn.“

Hans hatte seinen Hausaufsatz immer noch nicht fertig geschrieben und gab den ungeliebten Auftrag an Jank und Mill weiter.

„Die Mama hat gesagt, ihr sollt jetzt sofort nach Wildau gehn und Milch holn.“

Janks „Is ja ganich wahr. Ich hab genau gehört …“ wischte das Recht des Älteren und Stärkeren weg. Auch Mills „Das saggich der Mama, wennse wieder zurück is“, überging er. Geldstücke und Kanne wurden beiden in die Hände gedrückt. Sie machten sich maulend auf den Weg in das Dorf, das sie bisher nur von dem Kilometerschild am Ortsausgang kannten. Beim Tragen der leeren Milchkanne wechselten sie sich ab. Das Ortsschild kam in Sicht. Ihre Schritte wurden wieder sicherer. Der späte Winternachmittag hatte die Dorfstraße leergefegt.

„Das da vorne musse sein, die Molkerei.“

Um ganz sicher zu gehen, lief Jank auf das unbeleuchtete Gebäude zu. Beim Tor schaukelte ein Stück dicke Pappe an einer Schnur im Wind. Er hielt es fest und las GESCHLOSSEN. Sie standen stumm. Aus einigen Häusern drang schon schwaches Licht.

***

Heimwärts quälte scharfer Eiswind ihre Kindergesichter. Sie zogen sich die Klappen der Schildmützen über die Ohren. Auf dem Hinweg waren die vielen Trittspuren und Wagenrillen im Schnee noch matschig gewesen. Jetzt begannen sie im Frost zu erstarren und ließen ihre Halbschuhe abgleiten und umknicken. Mill hatte sich mit voller Absicht keinen Schal und keine Handschuhe mitgenommen. Er wollte leiden, um dann einen sicheren Grund zum Anklagen zu haben. Ausgerechnet beim Einweichen von einem Abziehbild für ein Poesiealbum hatte er sie beide aufgescheucht.

Jetzt, als ihm die Finger vor lauter Kragenzuhalten allmählich taub wurden, ärgerte er sich über seine eigene Dummheit. Er fing an, im Schrittrhythmus leise vor sich hinzuwimmern. Auf halbem Weg musste er noch den Eisengriff der Kanne übernehmen. Nun merkte er, dass auch seine Fingerknöchel anfingen, richtig zu wehzutun. Sein Wimmern steigerte sich in ein Jammern ohne Worte.

Jank begleitete ihn jetzt auch mit leisem Gewinsel. Als sie dann bei früher Winterdunkelheit am Ortsschild von Drahnsdorf angekommen waren, ließen sie ihr Wehklagen verebben, um es kurz vor dem Erreichen der Haustür wieder neu anzustimmen.

Hedwig hatte inzwischen der Frau Stanek das Kleid angemessen und war von dieser Anprobe mit einem Schatz, einem Bruchstück richtiger Schneiderkreide zurückgekehrt. Beim Anblick der durchgefrorenen Brüder mit der leeren Kanne, dazu noch unterstützt von Mills in Tränen schwimmendem Gegreine, packte Hedwig der heilige Zorn. Ein paar nicht allzu brennende Hiebe mit dem Teppichklopfer auf den Buckel von Hans, ein gemeinsames heißes Fußbad in der kleinen Zinkwanne, und die beiden Milchkannenträger fühlten, dass die Gerechtigkeit wieder mehr als hergestellt war.

Insgeheim spürten sie sogar einen Hauch von Mitleid, weil Hans als älterer Bruder die Schläge vor ihren Augen hatte einstecken müssen. Zugegeben hätten sie das allerdings nie, sondern winselten noch leise weiter, obwohl das heiße Fußbad und eine dicke Mehleinbrennsuppe sie schon längst für das erlittene Unrecht entschädigt hatten.