Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 29

Todesangst im Schulklo

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Je weniger Eiter Mills Mutter aus dem großem Zeh herausdrücken konnte, desto weniger Interesse zeigten andere Kinder an dem Verbandwechsel. Als sie ihm eines Abends nur noch ein Pflaster über die Zehe zog, da war Mill endlich den Namen Humpel-Mill los. Jetzt konnte er wieder das lästige Anhängsel für Ältere sein, das von ihnen aber trotzdem klaglos zu den Schauplätzen weiterer Abenteuer mitgenommen wurde.

Die Großen hatten sich noch aus der Zeit, als der Munitionszug geplündert wurde, heimlich die besonders begehrten grauen Pulverstangen aufgehoben. Im Hochsommer öffneten einige Jungen wieder ihre geheimen Vorräte.

Der dreizehnjährige Uwe schenkte Mill und Jank eine der begehrten grauen Pulverstangen, die er gehortet hatte. Die Jungen kratzten sich jetzt barfüßig drei stattliche Staubhaufen vor der Volksschule zusammen. Sorgfältig setzten die beiden Flüchtlingskinder und der Bauernsohn ihre grauen Pulverstangen in den Starthaufen. Es sollte heute mal etwas ganz Besonderes werden. Ein Massenstart der V 2 auf London sollte es nach Uwe werden. Alle ihre Raketen waren exakt so ausgerichtet, dass sie über das Dach der Schule fliegen sollten.

Die Streichholzflammen wurden an die hinteren Enden der Grauen gehalten. Mit lautem Zischen flogen die V 2 hoch. Sie fauchten mit unvorhersehbaren, abknickenden Richtungsänderungen durch die Luft.

Genau in diesem Augenblick rollten zwei Soldaten auf Fahrrädern die Schulstraße herunter. Auf den Gepäckträgern saßen im Grätschsitz zwei deutsche Mädchen in wehenden, geblümten Sommerröcken. Alle waren angetrunken und lachten schrill. Als dem vorausfahrenden Soldaten die Pulverstangen über den Kopf zischten, stürzte er mit seinem benebelten Gepäckträgermädchen. Sein Kamerad konnte gerade noch anhalten. Sie sahen die fliehenden Jungen. Da musste ihnen klar sein, wer für diesen Angriff auf sie verantwortlich war. Uwe machte einen Satz über seinen Gartenzaun. Jank und Mill rannten angstbesessen und kopflos in den leeren Hof der Schule. Hinter sich die stampfenden Stiefel der Soldaten und ihre Rufe. Das Schulhaus im sommerlangen Ferienschlaf. Alle Türen verschlossen. Jetzt gab es für beide kaum noch ein Entkommen. Nur noch ein Versteck konnte sie retten. Das Schulklo. Dieser windschiefe Holzschuppen an der Rückwand der Schule. In beiden Hälften waren, durch eine Bretterwand getrennt, der Jungen-und Mädchenabort mit drei Sitzlöchern nebeneinander. Mill und Jank flohen in diesen grässlichen, von schillernden Schmeißfliegen umschwärmten Ort. Hastig zogen sie die ausgebleichten, rissigen Holztüren hinter sich zu.

Jank drückte sich im Jungenklo an die Bretterwand. Sein aufgerissener Mundjapste nach Luft. Trotz seiner Angst ekelte ihn der Gestank, der ihn aus den drei offenen Klolöchern anfiel. Mill versteckte sich im Mädchenabort. Er keuchte.

Die Soldatenstimmen kamen näher.

Durch einen Bretterspalt konnte er die Stiefel mit den vielen Lederfalten erkennen. Ein Stiefel trat leicht gegen die halb offene Tür seines Verstecks. Langsam knarrte sie in ihren rostigen Angeln nach innen auf. Vor Mills angstverzerrtem Gesicht blieb sie stehen.

Wäre es jetzt nicht das Beste, einfach aus dem Versteck herauszukommen? Sich in sein unentrinnbares Schicksal zu ergeben? Besser, als wenn die Männer ihn herauszerren würden. Die Mama würde ihn hier schon finden. Und an den Patronenhülsen könnte sie ja dann sehen, wer das mit ihrem Kleinsten gemacht hatte.

Den Herrn von Brandensteig haben die erschossen. Jetzt werden die mich auch erschießen.

Er hatte seinen Atem auf ein kurzes, geräuschloses Hecheln eingestellt.

Da hörte er den Soldaten etwas Drohendes sagen. Es klang wie ein Fluch.

Die Stiefelschritte entfernten sich ein paar Meter. Erst jetzt wagte er es, wieder richtig Atem zu holen. Noch musste der Mann auf ihn lauern. Durch ein Astloch konnte Mill ihn jetzt sogar zum Teil schon sehen. Er stand mit gespreizten Stiefeln an einer Ziegelsteinmauer und pisste. Dabei sprach er vor sich hin und fing dann leise zu singen an. Noch nie hatte Mill einen so lange pissen gesehen. Nachdem der Soldat abgeschüttelt hatte, ging er summend langsam aus Mills Astlochblickwinkel heraus.

Die lauern jetzt bestimmt vor der Schule auf uns, vielleicht in den Büschen oder gleich um die Ecke vom Schulhaus.

Diese Vorstellung kroch als übermächtige Furcht in ihm hoch. Er dachte jetzt zum ersten Mal daran, dass ja sein Bruder im Jungenklo nebenan war. Allmählich schnürte ihm der eklige Abortgestank die Kehle zu und die Spuren der abgeschmierten Kackefinger an der Holztür direkt vor seinen Augen widerten ihn an.

Jank hatte sich schon herausgetraut und rief ihm fast flüsternd zu:

„Kannst kommen. Ich hab schon die Schutzbleche klappern gehört.“

Er steckte den Kopf vorsichtig aus seinem stinkenden Versteck. Die Sonne blendete ihn und die Farben sahen blass aus. Nach der erstickenden Bruthitze im Abortschuppen umwehte ihn die Schwüle des Augustnachmittags jetzt wie frische Frühlingsluft.

„Da hatter hingeschifft, da an die Mauer! Ich hab gesehn, wie er geschifft hat.“

Der große Urinfleck war in der Sonnenglut schon fast weggetrocknet.

„Wir sagn aber nix“, beschloss Jank.