Universität Bayreuth: Autobiografisches Schreiben, geprägt von interkulturellen Prozessen
Eine in der Literaturwissenschaft und im Feuilleton weit verbreitete Ansicht lautet: Wenn Schriftsteller im autobiografischen Rückblick die eigene Kindheit beschreiben, bieten sie Einblicke in die prägenden kulturellen Ursprünge ihres literarischen Schaffens. Dass diese Einschätzung zu kurz greift, belegt der kamerunische Literaturwissenschaftler Germain Nyada in seiner an der Universität Bayreuth entstandenen Dissertation über „Kindheit, Autobiografik und Interkulturalität“.
Am Beispiel von vier Kindheitsdarstellungen aus den letzten 60 Jahren zeigt er, dass die Vielfalt und Dynamik moderner kultureller Entwicklungen, die auf die Autoren im Kontext ihres Schreibens einwirken, deren Werke nachdrücklicher bestimmen als das Lebensumfeld ihrer Kindheit.
Für seine Untersuchungen hat Nyada Kindheitsdarstellungen von zwei frankophonen Autoren aus Afrika und zwei deutschsprachigen Autoren aus Europa ausgewählt. Der aus Guinea stammende, über viele Jahre als Emigrant in Paris lebende Schriftsteller Laye Camara gilt als bedeutender Vertreter der „Négritude“. In seinem Roman „L’enfant noir“ (1953) beschreibt er eine glückliche Kindheit in seiner afrikanischen Heimat. Jean-Martin Tchaptchet, französischer Emigrant aus Kamerun, schildert in seiner Autobiografie „La marseillaise de mon enfance“ (2004), wie der Einzelne vom System des Kolonialismus vereinnahmt und an einer eigenständigen Entwicklung gehindert wird. Der in Bulgarien geborene, aus einer jüdischen Familie stammende Elias Canetti zeichnet in seiner Autobiografie „Die gerettete Zunge“ (1977) die Stationen seiner Kindheit in wechselnden europäischen Ländern nach. In „Steppenrutenpflanze“ (2001) erinnert sich Yusuf Yesilöz an seine Kindheit in einem kurdischen Dorf im Osten der Türkei.
Alle vier Autoren konnten also beim Verfassen ihrer autobiografischen Texte auf Erfahrungen mit unterschiedlichen Kulturen und Sprachen zurückblicken. Nyada zeigt, wie diese Lebenserfahrungen in den künstlerischen Schaffensprozess einwirken und so den Entwurf der eigenen Kindheit mitbestimmen. Darüber hinaus sind aber auch die Formen der literarischen Produktion und der medialen Kommunikation seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer stärker von globalen Austauschbeziehungen geprägt. Vor allem in dieser Hinsicht stehen die vier Autoren in interkulturellen Zusammenhängen, die Eingang in ihr schriftstellerisches Werk finden.
Es sind daher keineswegs nur die tatsächlichen Lebenserfahrungen in Kindheit und Jugend, in denen die interkulturellen Aspekte der vier autobiografischen Texte wurzeln. Wie Nyada im Rückgriff auf neuere literaturtheoretische Arbeiten hervorhebt, ist eine interkulturelle Dimension den modernen erzählerischen Ausdrucksformen als solchen eingeschrieben, unabhängig von den jeweiligen nationalen und kulturellen Herkünften der Autoren. Wer sich dieser Ausdrucksformen bedient, indem er über das eigene Leben schreibt und das Geschriebene in die Öffentlichkeit bringt, wirkt an globalen Kommunikationsprozessen mit, die über eigene kulturelle Erfahrungen weit hinausweisen.
Daran haben, wie Nyada zeigt, künstlerische Auseinandersetzungen mit dem europäischen Kolonialismus oder mit innereuropäischen Migrationserfahrungen einen wesentlichen Anteil. Sie haben bei afrikanischen und europäischen Autoren eine Kreativität freigesetzt, die zum interkulturellen Charakter der erzählerischen Produktivität in den letzten Jahrzehnten auf nicht zu unterschätzende Weise beigetragen hat. Die Textanalysen, die Nyada in seinem Buch vorgelegt hat, versteht er daher auch als Anstöße zu einer sprachen- und kulturenübergreifenden Philologie, die globale Prozesse der literarischen Formenbildung in den Blick nimmt.
Germain Nyada gehört zu den ersten Absolventen der BIGSAS, der Bayreuth International Graduate School of African Studies. Er stammt aus Kamerun und hat zunächst Germanistik und Soziologie an der Universität Jaunde I studiert. Seit seiner Promotion an der Universität Bayreuth arbeitet er als als Dozent am Goethe-Institut in Montréal, im September 2011 wird er eine Postdoktorandenstelle im Department of Études françaises an der Concordia University in Montréal übernehmen.
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