Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 26
Spargel 1945
Neben der kleinen Volksschule lag auf dem Weg zum Nachbardorf die große Spargelplantage, die dem Herrn von Brandensteig gehörte. Die Felder waren jetzt herrenlos. Jeder konnte ernten, so viel er wollte.
Flüchtlingsfrauen buckelten sich den Hang hinauf. Unermüdlich stachen sie ihre Messer tief in die hoch angehäufelten Erddämme, um die Spargelstange lang und bleich herauszuziehen. Für den eigenen Bedarf brauchte Hedwig nur wenig von dem Luxusgemüse. Damit hätte sie sich und ihre vier Jungen nicht satt kriegen können. Aus den holzigen Abschnitten der unteren Enden gab es schon mal eine Suppe. Dafür musste sie aber dann zumindest noch einen dicken Kanten des angeschimmelten, schwarzbraunen Russenbrots einbrocken.
In Spankörben aus dem verwaisten Brandensteigsgutshof brachten die Frauen das edle Gewächs an den Bahnhof, wo ihnen die ausgekochten Berliner Hamsterer das Zeug fast aus den Händen rissen. Für die Schar der Ernterinnen, die vorher stundenlang gebückt die eigentliche Arbeit hatten, war es nur ein winziger Zuverdienst.
Hedwig hatte an diesem Tag den Kleinsten mit aufs Feld genommen. Vielleicht würde er ihr beim Tragen von Spankörben helfen können. Sie musste aber noch einmal zurück ins Pastorhaus, weil sie den unentbehrlichen Wetzstein vergessen hatte. Als sie aus der Plantage hinausging, wollte Mill nicht alleine bleiben und rannte ihr plärrend zwischen zwei Spargelfurchen hinterher. Dabei trat er barfuß mit seiner großen Zehe in einen Eisenrechen hinein, der mit den Zinken nach oben auf dem Weg lag. Hedwig erkannte ihren Kleinsten sofort an seinem unerträglichen Organ. Als er dazu noch das viele Blut sah, war sein Geschrei unstillbar. Zur Schonung setzte er beim Gehen nur die rechte Ferse auf, humpelte an ihrer Hand ins Dorf zurück.
Den nächsten Anlass zum Wehklagen gab es, als die Wunde ausgewaschen werden musste. Auch beim Desinfizieren mit Jodtinktur aus der großen braunen Glasflasche ein Riesentheater. Die drei älteren Brüder begutachteten zwar das allabendliche Reinigungs-und Desinfektionsritual, erkannten auch die Größe des Wundlochs an, aber er bekam ab jetzt den Namen Humpel-Mill verpasst.
Die Gerechtigkeit hatte ihn wieder eingeholt. Trotz seiner Kamillenblüten,.
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