Fortsetzungsroman: "Mamas rosa Schlüpfer" von Joachim Kortner, Teil 22

Die Schwerarbeiterzulage

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Roland erschien an einem Julimorgen wie jeden Tag am Bahnhof. Auf der Draisine sollte er zusammen mit dem Arbeitstrupp wieder zur üblichen Gleisreparatur hinausfahren. Doch heute brauchten sie dieses Schienenfahrzeug nicht, wie gewohnt, mit vereinten Kräften auf das Gleis zu heben.

„Heute Luckau“, sagte der wieder schweigsamer gewordene Wachsoldat nur. Ehe sie vermuten und rätseln konnten, was das bedeuten sollte, kam auch schon eine kleine Rangierlok mit zwei offenen Güterwagen angedieselt und hielt vor ihnen. Sie kletterten auf einen Wagon und erfuhren erst in Luckau, was ihnen blühte. Von hier aus war der bisher zweigleisige Schienenweg nur noch eingleisig, weil andere Arbeitstrupps die Schienen inzwischen abmontiert hatten. Auf dem zweiten Gleis stand eine Lokomotive unter Dampf. Daran waren offene Güterwagen gekoppelt, die schon von anderen Gruppen deutscher Arbeiter mit abmontierten Schienen beladen worden waren.

„Rossija vil kapuht. Jetzt Schiene kommen Rossija. Chitler kapuht.“

Der wortkarge Wachsoldat fühlte sich zu der Erklärung gezwungen, als er die fragenden Gesichter seines Trupps sah.

Zuerst mussten sie meterhohe Schlüssel aufsetzen, um die längst festgefressenen Muttern aufzudrehen. Sie wurden in Kästen aus Stahlblech gesammelt.

Nun hatten sie die gelösten Schienen mit vereinten Kräften auf die Wagons zu hieven. Rolands rechte Hand wurde übel gequetscht. Er hoffte, dass er morgen von der Arbeit befreit wird. Stumm hielt er dem Wächter seine prall geschwollene, blau unterlaufene Hand hin.

„Morgen gutt“, meinte der Russe ohne noch groß hinzusehen.

Roland hatte Wut auf sich selbst, dass er diesem Kerl mal unter Männern ein paar deutsche Zigaretten angeboten hatte. Die Arbeit war härter als alles, was er bisher erlebt hatte. Die halbe Stunde Mittagspause konnte ihnen keine Erholung von dieser Schinderei bringen. In der gnadenlosen Julisonne versuchten sie, unter den Wagons sitzend, ihre teils braungebrannten, teils purpurrot sonnenbrandigen Körper zu schützen.

Am Abend karrte sie die Rangierlok wieder zurück. Rostverschmiert lagen und lehnten sie mit aufgeplatzten Händen auf der Ladefläche, genossen den leichten Fahrtwind, den die kleine rote Rangierlok ihnen schenkte. Und sie schwiegen einander an.

Die Gleise bloß zu reparieren, das war für Roland damals schon eine einzige Schufterei gewesen. Nach der Arbeit aber war er noch stolz darauf, dass sein Schweiß scharf roch wie richtiger Männerschweiß. Er hatte sich nach dem ersten Arbeitstag ganz bewusst nicht die Achseln gewaschen. Es sollte doch jetzt jeder merken, dass er Schwerarbeiterzulage bekam.

Heute roch er sich nicht mehr. Er hatte Sehnsucht nach den Händen der Mama. Einen schneeweißen Verband würde sie ihm anlegen. Außerdem musste er für seine Hände unbedingt von irgendwoher ein Paar dicke Lederhandschuhe organisieren.

Ein Gedanke ließ ihn trotz seiner wunden Erschöpfung nicht in Ruhe. Dieser Wächter hatte es ihnen nicht erlaubt, zum Pinkeln und Kacken hinter die Wagons zu gehen. Nein, er sah ihnen dabei ungeniert zu und schien sich noch zu amüsieren, wenn sie zum Arschabwischen Gras oder dreckige, ölgetränkte Lappen nehmen mussten, die sie auf manchen Wagons fanden.

Irgendwann würde er es ihm noch heimzahlen. Das nahm er sich fest vor. Ganz leise dachte er dabei auch an das Waffengrab, von dem nur er etwas wusste. Zumindest aber müsste dieses Arschloch mal einen besonders kantigen Stein aus dem Gleisbett an die Birne kriegen. Irgendwann im Winter vielleicht, wenn es eher dunkel wird.

Eigentlich hatte er noch eine Verabredung am Bahnhof gehabt. Er wollte die Helga mit den langen Zöpfen treffen. Aber nach der Jodbehandlung seiner aufgeplatzten Hand, dem schneeweißen Verband und einem dick belegten Speckbrot schlief er, trotz des Stimmengewirrs um ihn herum, auf seinem Strohsack vor Erschöpfung ein.
Die Helga mit den langen Zöpfen wartete noch eine halbe Stunde am Bahnhof. Dann ging sie. Später stand sie noch eine Weile vor dem Pfarrhaus mit den Flüchtlingsfenstern.

Das schwache Licht ging an. Sie war eine Bauerntochter. Sie traute sich nicht, da hineinzugehen.