Universität Bayreuth:Wissen über fremde Kulturen vermitteln
Touristenführungen im Fokus der Sprachwissenschaft
Die Mitglieder einer Reisegruppe einerseits und der Touristenführer andererseits bringen oft sehr unterschiedliche Voraussetzungen mit. Muttersprachen, Herkunftskulturen, historische Kenntnisse und Bildungsinteressen sind so verschieden, dass eine Stadt- oder Museumsführung nur dann von allen Beteiligten als Bereicherung erlebt wird, wenn der Touristenführer seine Arbeit nicht einfach als Weitergabe fertiger Informationen auffasst. Er sollte vielmehr die eigenen Worte und Gesten sowie die Reaktionen seiner Zuhörer als Elemente einer sich entwickelnden interkulturellen Kommunikationssituation begreifen. Diesen Prozess gilt es umsichtig und dialogorientiert zu steuern.
Die hiermit verbundenen Herausforderungen thematisiert der kürzlich erschienene Sammelband „Deutschland als fremde Kultur: Vermittlungsverfahren in Touristenführungen“. Die Forschungsbeiträge wenden sich an alle, die beruflich damit befasst sind, Angehörigen fremder Kulturen Informationen über deutschsprachige Kulturen nahezubringen. Herausgeber sind Bernd Müller-Jacquier, Professor für Interkulturelle Germanistik an der Universität Bayreuth, und Marcella Costa, Professorin für Deutsche Sprache an der Universität Turin. Sie dokumentieren mit ihrer Publikation eine vierjährige Zusammenarbeit. Gemeinsam haben sie Seminare mit Studierenden aus Bayreuth und Turin veranstaltet, Touristenführungen analysiert und ein Fachkolloquium an der Universität Bayreuth ausgerichtet.
Forschungsarbeiten über und für die Praxis der Kulturvermittlung
„Wir wollen mit unserer Veröffentlichung eine Brücke schlagen zwischen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vermittlung von Fremdkulturwissen und der beruflichen Praxis von Menschen, die täglich mit dieser Thematik zu tun haben“, erklärt Müller-Jacquier. „Interkulturelle Germanistik und die empirische Gesprächsforschung müssen mit ihren Forschungsergebnissen auch in die praktische Gestaltung berufs- und bildungsbezogener interkultureller Kommunikationsprozesse hineinwirken wollen, sonst trocknen sie aus und werden steril.“ Dieses Credo macht sich auch Mitherausgeberin Marcella Costa zu eigen. Für ihre innovative Sprachforschung und ihre Verdienste um die Entwicklung der germanistischen Linguistik in Italien wurde sie vor kurzem mit dem renommierten Ladislao Mittner-Preis ausgezeichnet.
Im Mittelpunkt der neuen Veröffentlichung stehen Stadt- und Museumsführungen für ausländische Touristen in Deutschland oder für deutschsprachige Touristen im Ausland. Auch werden Texte in Reiseführern und Audio-Guides in die Analysen einbezogen. Die Autorinnen und Autoren arbeiten an Universitäten und Forschungseinrichtungen in Deutschland, Italien und der Schweiz. Sie sind ausgewiesene Fachleute für Interkulturelle Germanistik, Deutsch als Fremdsprache oder Germanistische Linguistik. In ihren Beiträgen arbeiten sie die vielseitigen Aufgaben der Kulturvermittlung heraus, die sich im Vorfeld und während einer Touristenführung stellen. An konkreten Beispielen werden charakteristische verbale und nonverbale Mittel erläutert, die im Prozess der Vermittlung von Wissen über fremde Kulturen zum Einsatz kommen.
Sprachliche und nicht-sprachliche Elemente erfolgreicher Touristenführungen
Die Wechselwirkungen zwischen einem englischen Stadtführer und einer deutschen Schülergruppe analysiert der Beitrag von Inga Harren und Wiltrud Hoffmann. Die Autorinnen zeigen, wie es dem Stadtführer in Canterbury auf unterhaltsame Weise gelingt, Wissen in der Fremdsprache weiterzugeben und zugleich die Schülerdisziplin aufrecht zu erhalten. Anja Stukenbrock und Karin Birkner arbeiten heraus, wie Augenkommunikation, Kopf- und Rumpfbewegungen, Zeigegesten und Sprache während einer Touristenführung zusammenwirken: Alle diese Faktoren tragen auf jeweils spezifische Weise dazu bei, Sehenswürdigkeiten in ihren räumlichen Kontext einzuordnen und zum Gegenstand einer fremdkulturellen Wissensvermittlung werden zu lassen. Am Beispiel einer Führung für deutschsprachige Studierende in Polen illustriert Reinhold Schmitt, wie in die Kulturvermittlung auch Aushandlungen politischer Positionierungen eingehen. Der Stadtführer sollte sich sowohl in der eigenen Kultur als auch in der Kultur der Teilnehmer auskennen und die gegebenen Verstehensvoraussetzungen explizit prüfen.
Stadt- und Museumsführungen als interkulturelle Prozesse
Stadtführungen dürfen also keine Monologe sein, wie Marcella Costa ausführt. Ihr Beitrag zeigt, wie die Mitglieder einer fremdsprachigen Reisegruppe vom Touristenführer aktiviert und beteiligt werden können. Frontale Wissensvermittlung wird damit umgestaltet zu einem unterhaltsamen Erlebnis, in dem beide Seiten sich ihrer sprachbedingten und kulturellen Perspektiven bewusst werden und auf einen gemeinsamen Verständnishorizont hinarbeiten. Wie die Fremdheit von Schauplätzen der Kulturgeschichte verringert werden kann, analysiert Bernd Müller-Jacquier am Beispiel einer Stadtführung durch Weimar. „Identifizieren“, „Erklären“ und „Vernetzen“ erweisen sich dabei als drei wesentliche Techniken, die in ihrer Wechselwirkung geeignet sind, über die Weitergabe von Einzelinformationen hinaus größere Bedeutungszusammenhänge zu entfalten. „Nur auf dieser Grundlage können kulturell Fremde eine Vorstellung von ihr, der Fremde, bekommen: indem sie sie mit-konstruieren.“
Veröffentlichung:
Marcella Costa und Bernd Müller-Jacquier (Hg.),
Deutschland als fremde Kultur: Vermittlungsverfahren in Touristenführungen,
Reihe interkulturelle Kommunikation,
Band 9 München (IUDICIUM) 2010
ISBN 978-3-86205-280-6
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