Herbert Geberts Buchkritik: Peter Watson "Der deutsche Genius"

God save the spleen! Große Teile der englischen Gesellschaft leiden unter einer fast neurotischen Wahrnehmungsverzerrung. Ihr Bild von Deutschland und den Deutschen zentriert sich auf die zwölf Jahre des Dritten Reiches, die auch im Geschichtsunterricht der Oberstufe den Schwerpunkt setzen. Ein unbekannter Erdteil sind dagegen die Höhenlandschaften der deutschen Literatur und Phlosophie von der Mtte des 18. bis ind erste Drittel des 20. Jhdt. Die schrittweise demokratische Verwandlung der deutschen Gesellschaft in der Nachkriegszeit, das weltoffene und avantgardistische Kulturleben in ihren großen und mittleren Städten – davon sind kaum Spuren im Bewusstsein der britischen Öffentlichkeit zu finden. Deren Deutschland wird geprägt von Fernsehfilmen mit sadistischen SS-Führern und altpreußischen Herrenreitern in den Hauptrollen.

Mit seinem „Der deutsche Genius“, dessen zweiundvierzig Kapitel schon ohne Anmerkungen und Anhänge neunhundert Seiten füllen, kämpft der englische Publizist Peter Watson (Jahrgang 1943) gegen die Barrieren der Vorurteile und der blasierten Gleichgültigkeit seines Heimatlandes an. Ihm gelingt – wie schon in seinen bisherigen Werken zur europäischen Kultur – und Gesellschaftsgeschichte – eine „große Erzählung“, die über weite Strecken fasziniert.

Die deutsche Ausgabe trägt den Untertitel „Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI“: eine Headline, die allerdings eher verkaufs- als erkenntnisfördernd wirkt.

Denn erst nachdem Johann Sebastian Bach 1750 am Ausgang des Barockzeitalters gestorben ist, setzt jene Entwicklung ein, die Watson als „deutsche Renaissance“ bezeichnet. Es ist die geistig-kulturelle Wiedergeburt eines Landes aus den immer noch nachwirkenden Brandstätten des Dreißigjährigen Krieges im Geist von Literatur, Kunst und Philosophie, im Sternzeichen von Winckelmann, Lessing, Goethe, Schiller, den Schlegel-Brüdern, Heine und vielen anderen. Hier gelingen Watson atemberaubende, fesselnde Kapitel und dennoch lebendig-bunt in Anschaulichkeit verwandelt.

Der Autor schildert, wie das vordemokratische, politisch zurückgebliebene Deutschland sich in seinen Kleinstadt Universitäten zu einer avantgardistischen Gelehrtenrepublik verändert. Sie wurde im späten 19. Jhdt. zum Schauplatz revolutionärer Erkenntnisschübe in den Naturwissenschaften und in der Mathematik, wo die zahlentheoretischen Fundamente der heutigen digitalen Welt entstanden. Auch die Perversion der deutschen Kultur und Wissenschaft, in der Wilhelminischen Ära einsetzend und im Höllensturz des Dritten Reichs vollendet, kommt mit auf Tatsachen gestützter Betroffenheit ins Bild.

In seinem letzte Drittel fällt das Werk Watsons allerdings in Wikipedia gestützte Mittelmäßigkeit ab. Die Aussagen zu den Literaturgeschichten der DDR und der frühen Bundesrepublik können mit den vorhergehenden Kapiteln substantiell nicht mithalten. Der Überblick über die deutsche Literaturlandschaft der Gegenwart bleibt blass. Dies trifft auch auf das Kurzportrait des 2005 zum Papst gewählten Theologen Ratzinger zu. Der Riss in seinem wissenschaftlichen Werk,der nach dem Schock von 1968 einsetzende Rückzug aus einer „vergifteten Moderne“ in die neuscholastische Theologie des 19.Jhdt bleibt ebenso unberücksichtigt wie sein Übergehen aller Aussagen einer historisch-kritischen Bibelwissenschaft. Weltbekannte progressive katholische Theologen wie Karl Rahner, Hans Kung oder Egon Drewermann tauschen in Watsons Riesen-Opus überhaupt nicht auf, was angesichts von dessen sonstiger Informationsüberfüllung verständlich erscheint.

Peter Watson
Der deutsche Genius
Eine Geistes- und Kulturgeschichte
von Bach bis Benedikt XVI
1022 Seiten
Bertelsmann