Forschungsteam an der Universität Bayreuth untersucht "Granularmaterie"

Weder fest noch flüssig: Granulare Materie im Visier der Experimentalphysik

Schwenktisch zur Erforschung der Dynamik granularer Materie. Die Glaskugeln in der Schale werden in eine Rotationsbewegung versetzt und dabei von der Kamera darüber beobachtet. Foto: Chr. Wißler

Schwenktisch zur Erforschung der Dynamik granularer Materie

„Materie ist fest oder flüssig oder gasförmig“, heißt es gelegentlich im Physik- oder Chemieunterricht, wenn von den drei Aggregatzuständen die Rede ist. Alltägliche Erfahrungen scheinen diese Vorstellung zu bestätigen – beispielsweise wenn Eis taut oder Wasser verdampft. Doch es gibt eine Art von Materie, die sich dieser gängigen Einteilung entzieht: Granulare Materie. Mit deren Eigenschaften und Verhaltensweisen befasst sich ein Forschungsteam um Prof. Dr. Ingo Rehberg an der Universität Bayreuth. Bei granularer Materie handelt es sich um eine Substanz, die aus festen Partikeln zusammengesetzt ist. Die Größe dieser Partikel bewegt sich in der Regel in einer Größenordnung zwischen wenigen Mikrometern und wenigen Zentimetern. Typische Beispiele sind Sandhaufen, Staubwolken, Dünen oder Lawinen, aber auch Industrieprodukte wie Kies, Zement, Streusalz, Zucker oder Waschpulver.

Modellierungen granularer Materie: Eine Herausforderung für die physikalische Forschung

Innerhalb granularer Materie hat jeder einzelne Partikel viele Möglichkeiten, mit benachbarten Partikeln in Wechselwirkung zu treten. Daher sind die Eigenschaften und Verhaltensweisen beispielsweise von Sand- oder Kieshaufen wandlungsfähig und vielfältig. Derartige Mengen können sich wie Festkörper verhalten, aber auch wie Flüssigkeiten – je nachdem, auf welchen Wegen Bewegungsenergie und Wärme sich darin ausbreiten. Sogar ein gasähnliches Verhalten lässt sich, beispielsweise in den Wolken eines Sandsturms, beobachten. In allen diesen Fällen handelt es sich nicht um Aggregatzustände wie bei Eis, Wasser oder Dampf, sondern um feste, flüssige oder gasförmige Erscheinungsformen einer dichten Menge fester Partikel.

Die Eigenschaften und Verhaltensweisen granularer Materie zu berechnen und in physikalischen Modellen abzubilden, ist eine wissenschaftliche Herausforderung, an der heute weltweit gearbeitet wird. An der Universität Bayreuth befasst sich Prof. Dr. Ingo Rehberg, Inhaber des Lehrstuhls für Experimentalphysik V, schon seit vielen Jahren mit dieser Thematik. In der aktuellen Ausgabe der „Zeitschrift für Angewandte Mathematik und Mechanik“ berichten er und weitere Mitglieder seines Forschungsteams über neuere Forschungen. Diese zielen insbesondere auf ein besseres Verständnis der Prozesse ab, die sich beim Übergang von einem festförmigen in einen flüssigartigen Zustand innerhalb granularer Materie abspielen.

Von der Kamera beobachtet: Granulare Partikel auf dem Schwenktisch und im Schwingförderer

Im Mittelpunkt der Untersuchungen in den Bayreuther Laboratorien stehen zwei experimentelle Systeme: ein Schwenktisch („swirling table“) und ein Schwingförderer („vibratory conveyor“). Der Schwenktisch ist eine Apparatur, bei der kleine Glaskugeln sich auf der ebenen Oberfläche einer Schale befinden. Diese Schale wird, ohne dass sie sich um den eigenen Mittelpunkt dreht, in eine horizontale Rotation versetzt. Eine Besonderheit der Versuchsanordnung besteht darin, dass alle Punkte auf der Schale exakt die gleichen Bewegungen vollziehen. Dadurch ist sichergestellt, dass jeder Kugel die gleiche kinetische Energie mitgeteilt wird, wenn sie entweder mit einer anderen Kugel oder mit dem Rand der Schale zusammenstößt. Die konstante Energiezufuhr durch die kreisförmigen Rotationsbewegungen bewirkt, dass die Kugeln in Vibration geraten und sich von einem kritischen Punkt an nicht mehr wie eine feste, sondern wie eine flüssige Materie verhalten. Eine über der Schale befestigte Hochgeschwindigkeitskamera verfolgt die Bewegungen der Glaskugeln. Sie erzeugt 500 Aufnahmen pro Sekunde und liefert dadurch präzise Informationen über signifikante Änderungen im Verhalten dieser „Partikel“.

Im Unterschied zum Schwenktisch ermöglicht es der Schwingförderer, granulare Materie in Vibrationsbewegungen zu versetzen, die zeitgleich horizontal und vertikal verlaufen. Auch hier bietet eine Hochgeschwindigkeitskamera überraschende Einblicke in das Bewegungsverhalten. Bisweilen führen die Dauervibrationen dazu, dass die Glaskugeln, Sandkörner oder andere Partikel sich in auffälligen dreidimensionalen Mustern zusammenfinden.

Anwendungspotenziale in der Industrie

Die Ergebnisse dieser experimentellen Grundlagenforschung sind hochrelevant für die Industrie – insbesondere für Unternehmen, die Schüttgut wie Kies, Sand oder Streusalz herstellen, verpacken oder ausliefern. Denn die gewonnenen Informationen können dazu beitragen, den Transport dieser Güter mit einem geringen Energieaufwand und somit kostengünstig durchzuführen.

„Derzeit sind wir von physikalischen Modellen, die das Verhalten granularer Materie exakt beschreiben und zuverlässige Prognosen ermöglichen, noch weit entfernt“, erklärt Prof. Dr. Ingo Rehberg. „Aber unsere bisherigen Untersuchungen bestärken uns in der Auffassung, dass Phasenübergänge vielversprechende Ansatzpunkte für eine Modellierung darstellen. Solche Phasenübergänge sind zum Beispiel die Veränderungen in der Bewegungsrichtung oder der Wechsel zwischen Zuständen, die den Aggregatzuständen ‚fest‘, ‚flüssig‘ und ‚gasförmig‘ gleichen. In unserer Bayreuther DFG-Forschergruppe ‚Nichtlineare Dynamik komplexer Kontinua‘ wollen wir diese Untersuchungen weiter vorantreiben.“

Videosequenzen zu den Schwenktisch-Experimenten:

http://www.uni-bayreuth.de/blick-in-die-forschung/35-2010-Videos/